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Der erste Knick seit vielen Jahren

Ausbildung Die Berufsschulen im wirtschaftsstarken Landkreis verzeichnen rückläufige Zahlen. Vor allem in gewerblich-technischen Berufen fehlen Bewerber. Experten sehen darin Spätfolgen der Pandemie. Von Bernd Köble

Im Alltag vieler Menschen ist Corona kein Thema mehr. In der beruflichen Bildung wirkt die Pandemie auch eineinhalb Jahre nach der Rückkehr der Präsenzpflicht in Schulen weiter nach. 4,2 Prozent weniger Schülerinnen und Schüler in Teilzeit an den kreiseigenen Berufsschulen in diesem Jahr, über alle Bereiche hinweg liegt der Rückgang bei 2,6 Prozent. Das liest sich auf den ersten Blick nicht dramatisch. Allerdings: Während die Zahl der Schulpflichtigen
 

„Mit Blick auf den Fachkräftemangel
macht uns das Sorge.
Heinz Eininger
Der Landrat über rückläufige Schülerzahlen an den Berufsschulen.
 

generell steigt und sich die Lage im Vollzeitunterricht – etwa an den beruflichen Gymnasien – relativ stabil zeigt, ist dies der erste Rückgang bei Schülern im Übergang in einen Beruf seit vielen Jahren. Die waren voll allem geprägt durch eine glänzende Wirtschaftslage hier im Landkreis. „Mit Blick auf den Fachkräftemangel macht uns das Sorge“, sagt der Esslinger Landrat Heinz Eininger, der von einem Trend nach Corona spricht. Weil es während der Pandemie nur sehr eingeschränkt Angebote zur Berufsorientierung gab, sprechen Experten von Jahrgängen der Orientierungslosen.

Auszubildende fehlen fast überall. Im kaufmännischen Bereich der Berufsschulen ist es vor allem der Einzelhandel, der nach Corona wieder steigende Umsatzzahlen verbucht und händeringend nach Fachkräften sucht. Besonders stark vom Rückgang betroffen sind die gewerblich-technischen Berufe wie Elektrotechniker oder Industriemechaniker. Mit zwei Ausnahmen: Die Ausbildung zum Land- und Baumaschinenmechatroniker an der Kirchheimer Max-Eyth-Schule verzeichnet ein Plus von 41 Schülerinnen und Schülern. An der Friedrich-Ebert-Schule in Esslingen-Zell wirkt das neue Eisenbahnlabor offenbar als Magnet. In den Bahnberufen ist die Zahl der Absolventen ebenfalls gestiegen.

Gleichzeitig wächst der Bedarf, Schülerinnen und Schüler an der Schwelle zum Berufsleben über den reinen Unterricht hinaus zu begleiten. Schulsozialarbeit ist dabei ein wichtiges Instrument. 12,5 Vollzeitstellen gibt es dafür an den acht beruflichen Schulen im Kreis. Auf 946 Schülerinnen und Schüler kommt eine Betreuungsperson. Das ist zwar besser als im Landesdurchschnitt, aber nicht ausreichend. „Wir haben in diesem Bereich im Moment zu wenig Kräfte“, sagt Ulrike Hauke-Kubel, Rektorin der Kirchheimer Jakob-Friedrich-Schöllkopf-Schule und geschäftsführende Schulleiterin der beruflichen Schulen im Kreis. „Wir stehen in der Verantwortung, damit unsere Schülerinnen und Schüler im Berufsleben bestehen können.“ Allerdings weiß auch sie: Was auskömmlich wäre, ist unter gegebenen Umständen im Moment nicht bezahlbar. Dabei werden die Probleme, mit denen junge Menschen kämpfen, immer komplexer und reichen weit über den Schulalltag hinaus.

Neuer Bildungsgang unterstützt

Unterstützung kommt von der IHK, die gemeinsam mit den Schulen Sprechstunden anbietet, wo es um Fragen und Probleme in der Ausbildung geht. Hoffnungen ruhen auch auf dem neuen Bildungsgang „AVdual“, der seit diesem Schuljahr schrittweise das seitherige „Vorqualifizierungsjahr Arbeit und Beruf“ (VAB) und das Berufseinstiegsjahr (BEJ) ersetzen soll. An drei Schulen gibt es dieses neue Angebot bereits. An der Kirchheimer Max-Eyth-Schule, der Nürtinger Philipp-Matthäus-Hahn-Schule und der Käthe-Kollwitz-Schule in Esslingen werden Jugendliche auf diese Weise bei der Suche nach einem Praktikum oder einem Ausbildungsplatz unterstützt.
 

Mit Zahnschmerzen zum Orthopäden

Während die Schülerzahlen der kreiseigenen Berufsschulen erstmals wieder sinken, verzeichnen die Sonderpädagogischen Bildungs- und Beratungszentren (SBBZ) seit Jahren einen Anstieg. Besonders deutlich wird dies an der gerade erst erweiterten Esslinger Rohräckerschule mit der Verbundschule in Dettingen. Am Schulzentrum auf dem Zollberg erhalten in diesem Jahr 876 Schülerinnen und Schüler mit einem Handicap Förderunterricht und gesonderte Betreuung. Vor fünf Jahren waren es noch 804.
Zahlen, die die Politik im Kreistag spalten. Die Grünen sehen darin vor allem Nachholbedarf in Sachen Inklusion. Die Zahlen betrachte man mit Sorge, wenn der Landkreis bei der inklusiven Beschulung gleichzeitig zu den Schlusslichtern im Land zähle, betont Grünen-Bildungsexpertin Gabriele Klumpp. Lernen mit anderen Kindern in Regelschulen sei durch nichts zu ersetzen. Dabei verweist sie auf die hohen Hürden, die sich Eltern auf dem Antragsweg zu einem Schulplatz in den Weg stellten. „Viele bringen dafür einfach nicht die Kraft auf.“
CDU und FDP erkennen in den steigenden Schülerzahlen an den SBBZ ein Qualitätsmerkmal. „Das Gegenteil von Inklusion ist nicht Exklusion“, betont die FDP-Abgeordnete Judith Skudelny. Vielleicht träfen Eltern eine solche Entscheidung ja aus gutem Grund, „weil sie wissen, dass unsere SBBZ hier im Kreis gut sind“.
Seit 2015 besteht im Land ein Rechtsanspruch auf Inklusion. Dabei entscheidet allein der Wille der Eltern, die bei dieser Wahl Rat vom Schulamt erhalten. Mit bis zu drei Elternaben­den bis zur Entscheidungsfindung sei man gut unterwegs, betont die Leiterin des Schulamtes in Nürtingen, Corinna Schimitzek. Dass das Schulamt schwerpunktmäßig den sonderpädagogischen Weg empfehle, will Schimitzek nicht bestätigen. „Ich kenne keine Schule, die nicht offen ist für Inklusion.“ Gleichzeitig hätten Grundschul-Lehrkräfte nicht die Expertise von Sonderpädagogen. Schimitzek: „Wenn ich Zahnschmerzen habe, gehe ich nicht zum Orthopäden.“
Das größte Problem: Nach einer von der Erziehungsgewerkschaft GEW in Auftrag gegebenen Studie fehlen zur Umsetzung der Inklusions- und Grundschulziele im Land bis 2035 rund 27 000 Lehrkräfte. bk