Dass Ernst Schrade blind ist, bemerkt man nicht unbedingt sofort. Mit zügigen Schritten kommt er in der schulpsychologischen Beratungsstelle die Treppe herunter, um seinen Gast am Eingang abzuholen. Schrade achtet besonders darauf, dass er sein Gegenüber anschaut, wie er selbst sagt, obwohl er längst nichts mehr sehen kann: „Die körperliche Zuwendung ist gerade in Beratungsgesprächen sehr wichtig.“ Einige Kartons unter seinem Schreibtisch verraten, dass er buchstäblich auf gepackten Koffern sitzt: Jetzt geht er mit 67 Jahren in Pension.
Seine Erblindung bezeichnet er „als Meilenstein in meiner Berufsbiografie“: Sie hat alles verändert. Er leidet an Retinitis pigmentosa, einer Degeneration der Netzhaut, die bei ihm schnell fortschritt. Wäre es nach dem Oberschulamt gegangen, hätte Ernst Schrade seinen Ruhestand nicht jetzt, sondern bereits 1986, mit Mitte 30, angetreten. Damals war er Musiklehrer, zuletzt in Sulzgries. „Einen blinden Lehrer konnte man sich zu der Zeit aber noch nicht vorstellen. Heute gibt es die durchaus“, sagt der Esslinger, der Musikerziehung studiert und seit seinem 19. Lebensjahr über fast vier Jahrzehnte verschiedene Chöre und Ensembles geleitet hat.
Am Anfang gab es Vorbehalte
Da er die Pensionierung abgelehnt hatte, musste man eine neue Beschäftigung für ihn suchen. 1987 wurde in Esslingen die erste schulpsychologische Beratungsstelle eingerichtet. „Wäre ich nicht gewesen, hätte es die wahrscheinlich nie gegeben“, sagt Schrade, der heute ein 13-köpfiges Team leitet. Seit 2019 sind die schulpsychologischen Beratungsstellen im Landkreis Teil des Zentrums für Schulqualität und Lehrerbildung in Nürtingen und formal dem staatlichen Schulamt zugeordnet. In der Anfangszeit gab es durchaus Vorbehalte gegen ihn. „Ohne visuelle Eindrücke von Ratsuchenden kann man nicht beraten“, schildert Ernst Schrade die damals gängige Meinung. Außerdem war er kein Psychologe, er hat erst später ein psychologisches Aufbaustudium gemacht.
„Der Fels in der Brandung“, so hatte ihn eine Schülerin beschrieben, die nach dem Amoklauf von Winnenden mit 15 Toten Hilfe brauchte. Ernst Schrade gehörte damals zum Krisenteam bestehend aus an die 30 Psychologen, das in einer Stadthalle unweit der betroffenen Realschule Gespräche anbot. Jeder konnte in den Tagen nach der Tat dort vorbeikommen. Die Mitarbeiter am Eingang wussten damals sofort, dass die junge Frau mit dieser Beschreibung nur Ernst Schrade meinen konnte.
Viele Krisen gemanagt
Die Amoktat von 2009 zählt mit zu dem Schlimmsten, was er erlebt hat: „Diese große Krise hat mir aber auch viel Resilienz verschafft, hat es mir leichter gemacht, für andere da zu sein.“ Es gibt noch mehr tragische Vorfälle in seiner Berufslaufbahn, bei denen Schulleitungen seine Hilfe anforderten, etwa als in Unterensingen ein Vater seine beiden Kinder erschossen hat, als am Esslinger THG ein Lehrer tödlich verunglückt war oder nach der Tat in Ostfildern, als ein Vater seinen kranken Sohn umbrachte. Bei allen Fällen haben er und seine Kollegen die Erfahrung gemacht, „dass es oft weniger entscheidend war, was wir gemacht haben, sondern dass wir überhaupt da waren“.
Viele Probleme, die weniger einschneidend sind, können die Schulen inzwischen oft selbst lösen. Denn die Beratung und Fortbildung von Lehrern hat in der Arbeit der psychologischen Beratungsstelle in Nürtingen immer mehr Raum eingenommen. „Die Schulen haben in den vergangenen Jahren viel dazugewonnen, das ist eine gute Entwicklung.“
Auch Mobbing unter Schülern ist ein großes Problem. „Betroffene tragen oft ein Leben lang daran“, so Schrade. Die Annahme, dass es „früher“ nicht so schlimm gewesen sei, stimme nicht. Doch im digitalen Zeitalter habe sich „die Qualität der Schikane ausgedehnt und verändert“. Zu einem zentralen Thema in den Beratungen ist in den vergangenen Jahren aber der Schulabsentismus geworden: Immer mehr Kinder weigern sich, in die Schule zu gehen. Verändert habe sich auch die Zusammenarbeit mit den Eltern. „Früher waren wir die erste Anlaufstelle“, so der Schulpsychologe, „heute sind wir oft die sechste oder siebte Stelle.“ Fühlten sich Väter oder Mütter bei Problemen zu stark in die Pflicht genommen oder kritisiert, dann würden sie oft einfach zum nächsten Angebot wechseln.
Für den Ruhestand hat Ernst Schrade schon Pläne. Er möchte mehr singen und ein weiteres Instrument lernen: südamerikanische Harfe.