Es ist Nachmittag, Sonnenstrahlen tanzen durch die Industriefenster einer gut 200 Quadratmeter großen Fabrikhalle in der Neuffener Bahnhofstraße. Wirft man einen Blick durch die riesigen Fensterscheiben, kann man in einiger Entfernung den Hohenneuffen sehen.
Lorenz Ziegler hat für diesen majestätischen Anblick im Moment allerdings keine Zeit. Konzentriert sitzt der junge Mann vor einer 30 Jahre alten Bernina-Industrienähmaschine. Ein leises Surren durchbricht die Stille. Der Nähfuß der Bernina hinterlässt ein gleichmäßiges Stichbild auf dem Außenflügel eines Enzo 3. Dies ist ein hochwertiger Wettkampf-Gleitschirm und gehört dem 29-Jährigen selbst. Die Arbeit dauert nur wenige Minuten, schon ist der Riss in dem Nylongewebe geflickt. Die Naht sieht perfekt aus. Kein Wunder, denn Lorenz Ziegler ist Profi. Er hat sich auf die Reparatur und die Prüfung von Gleitschirmen spezialisiert und sich mit seiner Firma ParaPro Anfang des Jahres in Neuffen selbstständig gemacht. Wie kam es dazu?
Rein in die Berge Österreichs
Lorenz Ziegler ist ein waschechter Neuffener. In dem Städtchen unterhalb des Hohenneuffens ist er aufgewachsen und hat dort die Realschule besucht. Seine Ausbildung zum Industriemechaniker – Fachrichtung Feinmechanik – absolvierte er bei einer Firma in Esslingen. Zwei Jahre arbeitete er in der Großen Kreisstadt als Instandhalter, dann hängte er noch eine Weiterbildung als Maschinenbautechniker dran. Sein Job machte ihm Spaß, doch kurz nach bestandener Prüfung im Jahr 2020 zog es den jungen Mann in die Berge. Ziel war das Stubaital in Österreich. Er fand bei der dort ansässigen Flugschule „Parafly“ einen Job. In deren Zubehör-Shop kümmerte er sich um den Verkauf, und gelegentlich fand man ihn auch in der zur Flugschule gehörenden kleinen Werkstatt für Gleitschirme.
Weshalb diese Neuorientierung? Ganz einfach: Lorenz Ziegler ist vom Gleitschirmfliegen begeistert. Bereits in jungen Jahren lernte er diese außergewöhnliche Sportart kennen. Sein Vater, selbst Gleitschirmpilot, nahm ihn als Kind öfter mit zu den Startplätzen am Hohenneuffen. „Ich fand das damals ganz spannend, mehr aber auch nicht“, erzählt Ziegler. Den eigentlichen Kick erlebte der junge Mann mit 16 Jahren am Ossiacher See in Österreich. Dort verbrachte er den Urlaub mit seinen Eltern und beobachtete stundenlang vom Seeufer aus Gleitschirmflieger beim Training. In der Luft waren dort allerdings nicht die Durchschnittspiloten, sondern die wahren Luftakrobaten, die spektakuläre Flugmanöver zeigten.
Lorenz Ziegler war fasziniert. „Das sah so geil aus, und mir wurde schlagartig klar, dass ich das auch machen will. Zum Glück hatte mein Vater auch sofort Verständnis für meinen Wunsch und erlaubte mir, mich gleich bei der ortsansässigen Flugschule anzumelden“, so Ziegler.
Gesagt, getan. Einen Teil der Grundausbildung absolvierte er gleich vor Ort, den restlichen Teil – hauptsächlich Höhenflüge – dann am Achensee in Tirol. Nach drei Wochen hatte der sportbegeisterte Jugendliche den A-Schein in der Tasche. Und da er das Flugparadies quasi vor der Haustür hatte, nutzte er je nach Wetterlage jede freie Minute für Flüge rund um den Hohenneuffen. „Es hat ungefähr zwei Jahre gedauert, bis ich richtig reingekommen bin. Man braucht viel Gefühl und natürlich Übung, Übung, Übung“, sagt der Neu-Selbstständige. Dann ging es für Lorenz Ziegler steil bergauf – im wahrsten Sinne des Wortes. Mit 18 Jahren absolvierte er seinen ersten längeren Flug in den Alpen, kurz darauf erwarb er den B-Schein. Dies ist sozusagen die Lizenz für die echten Langstreckenflüge. Das Fliegen ließ Lorenz Ziegler nicht mehr los. Und so nahm das Schicksal seinen Lauf. „Die 3000er-Berge in den Alpen sind schon eine ganz andere Nummer als der heimische Hohenneuffen“, sagt der junge Mann schmunzelnd. Deshalb der Umzug nach Österreich und die Anstellung bei der Neustifter Flugschule „Parafly“ im Stubaital.
Neben seinem Verkaufsjob brachte er sich selbst unter anderem das Nähen bei und begann dort mit kleineren Gleitschirmreparaturen. Zudem war er an der Organisation des Stubai-Cups 2020 beteiligt. Dies ist eines der größten Gleitschirmfestivals im Alpenraum und äußerst beliebt in der Szene. Ach ja, vielleicht sollte auch nicht unerwähnt bleiben, dass Ziegler während seines Aufenthalts in Neustift zudem seinen Tandemschein machte, die Fluglehrerausbildung absolvierte, mit Akrobatikfliegen anfing und an ersten Wettkämpfen teilnahm.
Vom Enthusiast zum „Doktor“
Nach zwei Jahren verließ der junge Mann „Parafly“ und wechselte in die „Paraclinic“ im österreichischen Absam. „Für mich ist dies europaweit einer der besten Check-Betriebe für Gleitschirme überhaupt“, berichtet der Neuffener. Dort lernte er das anspruchsvolle Handwerk auf höchstem Niveau. Dazu gehört, die Gleitschirme und das Gurtzeug zu reparieren und zu prüfen, das Trim-Tuning sowie der Austausch beschädigter Leinen oder der Wechsel des gesamten Leinensatzes, Gleitschirmrettungsschirme zu packen sowie die Nachprüfung von Gleitschirmen.
Diese Kontrolle ist je nach Hersteller nach Ablauf einer bestimmten Frist vorgeschrieben und ist in Deutschland Pflicht. Zudem wird dadurch die Flugtauglichkeit des Schirms garantiert. Denn beim Gleitschirmfliegen kann es immer mal wieder zu Beschädigungen des Schirms kommen. Von Rissen oder Löchern im Segeltuch, Defekten an den Tragegurten bis zu kaputten Leinen ist alles möglich.
Rückkehr in die Heimat
Nach zwei Jahren als Mitarbeiter in der „Paraclinic“ war es für Lorenz Ziegler an der Zeit, nach Neuffen zurückzukehren. „Meine Liebe zur Heimat, zu meiner Familie und natürlich zu meiner Freundin, die als Kinderärztin in Stuttgart arbeitet, haben meinen Entschluss bestärkt“, erzählt der sympathische junge Mann. „Neben Tandemflügen, die man bei mir ab sofort buchen kann, ist es mein Antrieb, hier den bestmöglichen Service rund um den Gleitschirm zu bieten.“
Mit guter technischer Ausstattung in seinen neuen Geschäftsräumen und dem nötigen Know-how ist er für fast alle Arten von Reparaturen oder Prüfungen am Schirm gerüstet. Er sagt: „Ich halte mich stets auf dem Laufenden, was die technische Entwicklung anbelangt. Für mich ist wichtig, dass sich der Pilot mit seinem geprüften oder reparierten Gleitschirm anschließend wirklich sicher fühlt.“ Erst dann sei er zufrieden und habe sein Ziel erreicht.
Info Seit Anfang dieses Jahres hat das ParaPro in der Bahnhofstraße 28 in Neuffen geöffnet. Weitere Infos gibt es unter www.parapro.services.