Sich einfach auf den Sattel schwingen und losradeln: Viele Menschen verbinden das Radfahren mit Freiheit. Den kühlen Wind im Gesicht spüren, das Surren der Reifen auf dem Asphalt, die Ruhe und Flexibilität genießen. Vom reinen Fortbewegungsmittel hat sich das Fahrrad längst zum Freizeithighlight entwickelt, besonders seit es E-Bikes gibt. Das Land Baden-Württemberg hat nun untersucht, wie wirtschaftlich der Radtourismus ist – in einem Pilot-Projekt am Neckartalradweg, der auch durch den Kreis Esslingen führt. Die Ergebnisse zeigen, welche Bedeutung der Radtourismus hat, und welche Chancen er bietet.
Im Zuge der Radverkehrsanalyse erhob das Land ein Jahr lang, von April 2019 bis März 2020, eine ganze Reihe von Daten. An fünf Standorten, die am rund 370 Kilometer langen Neckartalradweg liegen, wurden mit sogenannten Dauerzählgeräten die Verkehrsströme gemessen. Einer dieser Standorte war im Kreis Esslingen: in Wendlingen. Dort und in Eberbach bei Heidelberg haben die Forscher zudem in regelmäßigen Abständen rund 350 Interviews mit Einzelpersonen und Gruppen geführt, sodass sie letztendlich Daten von etwa 700 Radfahrern gesammelt hatten. Die Auswertung gab Antworten auf folgende Fragen.
Wer nutzt die Route?
So viel vorab: sehr viele Touristen. Im besagten Zeitraum wurden in Wendlingen etwa 171 213 Radfahrer gezählt, während der Saison (zwischen dem 1. April und dem 31. Oktober) waren es 131 365, was 77 Prozent des Gesamtaufkommens entspricht. Hohe Saisonanteile deuten laut den Machern der Studie darauf hin, dass es dort viel touristischen Verkehr und Freizeitverkehr gebe.
Durch die Gespräche gelang es den Forschern zudem, eine Art Profil des typischen Neckartalradfahrers zu erstellen. So sind mehr als 60 Prozent der Radler über 46 Jahre alt, der Großteil lebt in Baden-Württemberg. Die meisten (85 Prozent) würden den Fernradweg als Tour weiterempfehlen.
Welches wirtschaftliche Potenzial steckt im Neckartalradweg?
„Der Hintergrund dieser Erhebung ist es, Zahlen und Fakten in der Hand zu haben: Was bringt uns der Radweg wirtschaftlich?“, sagt Nina Schaal. Sie kümmert sich beim ADFC um die Vermarktung des Neckartalradwegs. Wie die Studie zeigt, sind rund 27 000 Radreisende jedes Jahr auf der Route unterwegs. Das sind Touristen, die mehrere Tagesetappen zurücklegen und dementsprechend auch Übernachtungsmöglichkeiten in den Kommunen nutzen. 87,30 Euro geben sie im Schnitt pro Tag aus. Zu dieser Gruppe kommen die Tagesausflügler hinzu. Zwar brauchen die keine Unterkünfte, aber sie geben in Biergärten, Cafés oder kulturellen Einrichtungen wie Museen trotzdem Geld aus – und zwar 17,20 Euro pro Kopf und Tag. Am Jahresende wird ein Bruttoumsatz von zwölf Millionen Euro verzeichnet. Über 230 Arbeitsplätze sind dadurch gesichert.
Was kann die Tourismusbranche aus dieser Studie für sich ableiten?
„Der Neckartalradweg entlang unserer Lebensader der Region nimmt einen hohen Stellenwert im Landkreis Esslingen ein“, sagt Judith Rühle, die im Landratsamt für die Tourismusförderung zuständig ist. Außerdem macht sie auf den Schwäbische-Alb-, Hohenzollern- und Neckar-Alb-Radweg aufmerksam. „Unsere Radtouren verbinden abwechslungsreiche Landschaften mit interessanten, kulturellen und historischen Sehenswürdigkeiten“, sagt Rühle. Die Route durch das Neckartal ist aber die beliebteste.
Davon, dass die meisten Radler aus Baden-Württemberg kommen und die Route dringend weiterempfehlen würden, leiten die Macher der Studie ab: „Es zeigt sich Potenzial für ein Marketing über das Land Baden-Württemberg hinaus.“ Außerdem zeige das Durchschnittsalter von 46 Jahren, dass Kinder und Jugendliche sowie junge Familien noch nicht ausreichend angesprochen seien. Beide Punkte ständen im Fokus, erklärt Schaal vom ADFC. Sie hätten auch schon Schritte nach vorn gemacht, sogar international werde für den Weg geworben: So ist er bei den „Germanys Top River Routes“ aufgeführt.
Wo gibt es noch Luft nach oben?
Dass die Radinfrastruktur in vielen Bereichen ausbaufähig ist, das ist keine Neuigkeit. Vor allem die Beschilderung müsse verbessert werden, hieß es in der Analyse. „Aber wir stehen in engem Kontakt zu den Kommunen“, erklärt Nina Schaal. Die Qualität der Route sei ein wichtiger Faktor, damit die Leute auch weiterhin den Weg nutzen. Vielleicht schafft die Studie nun Abhilfe, immerhin verdeutlicht sie, dass sich Investitionen in diesen und auch in andere Radwege lohnen. So seien die drei anderen Fernradwege im Kreis derzeit im Zertifizierungsprozess, um vom ADFC als Qualitätsrouten ausgezeichnet zu werden, sagt Judith Rühle.
Der Neckartalradweg
Mehr als 370 Kilometer ist der Neckartalradweg lang. Er führt vom Ursprung des Flusses im Schwenninger Moos bei Villingen-Schwenningen bis nach Mannheim, wo der Neckar in den Rhein mündet. Die Strecke ist „nahezu steigungsfrei“, wie auf der Webseite der Route geworben wird, und bietet den Radreisenden viele landschaftliche und kulturelle Highlights. Sie wurde vom ADFC mit vier Sternen zertifiziert und ist damit eine „Qualitätsroute“.
Die Analyse stammt aus der Zeit vor der Coronapandemie. Deren Folgen für den Tourismus sind daher nicht berücksichtigt. Trotzdem, oder vielleicht sogar gerade deshalb, hat der Radtourismus im Landkreis Esslingen an Bedeutung gewonnen. „Dazu trägt zum Beispiel die zunehmende Nutzung von E-Bikes bei. Sie machen das Radfahren für viele Menschen attraktiver“, erklärt Judith Rühle, die im Landratsamt Esslingen für die Tourismusförderung zuständig ist. Weil man sich in Coronazeiten urlaubsmäßig einschränken musste, haben viele Menschen das Radfahren für sich entdeckt. Dem Radtourismus hat das mutmaßlich einen Schub gegeben. dcb