In Weilheim stimmen die Bürger am 24. April über das Gewerbegebiet „Rosenloh“ ab – und damit auch über die Ansiedlung des Brennstoffzellenherstellers Cellcentric. Was das für das Unternehmen bedeutet, erläutert Professor Dr. Christian Mohrdieck, Mitglied der Cellcentric-Geschäftsführung, im Interview mit Bianca Lütz-Holoch.
Die Zukunft von Cellcentric liegt nun in den Händen der Weilheimer Bürger. Wie finden Sie das?
Christian Mohrdieck: Wir bewerten das sehr positiv. Es ist gut, wenn unser Vorhaben breit in der Bevölkerung verankert ist und alle Bürger sich an der Entscheidung beteiligen können. Wir haben aus Weilheim schon viel positives Feedback bekommen und sind überzeugt, dass wir ein sehr gutes Projekt haben, das dem Klimaschutz und der gesamten Gesellschaft hilft.
Damit verschiebt sich die Entscheidung. Bringt das Ihren Zeitplan durcheinander?
Mohrdieck: Wir werden die Zeit zum intensiven Dialog mit den Menschen nutzen. Wenn am 24. April eine Entscheidung fällt, wäre das mit unserem Plan noch verträglich. Wir würden gerne im ersten Quartal 2023 mit den Bauarbeiten beginnen und 2025 das Gebäude beziehen sowie die Produktion starten. 2026 kann es dann Schritt für Schnitt mit der Produktion von großen Stückzahlen losgehen.
Warum ist es so wichtig, dass Sie 2026 loslegen können?
Unsere Kunden – Daimler Truck, die Volvo Group und auch Rolls Royce Systems/MTU – haben sehr klare Produktpläne, und unser Zeitplan ist darauf abgestellt. Die neue Produktionsstätte ist erforderlich, um unsere Produkte zum richtigen Zeitpunkt und in der erforderlichen Qualität an unsere Kunden auszuliefern. Was dahinter steht: Insbesondere auf dem Gebiet Lkw gilt es, Emissionsreduktionsvorgaben der Europäischen Union zu erfüllen. Die werden immer schärfer. 2025 tritt eine erste Stufe mit minus 15 Prozent in Kraft, 2030 werden die Anforderung noch mal verdoppelt.
Und da gibt es keinen Spielraum?
Je früher die Vorgaben erfüllt werden, desto besser ist es für das Klima. Wir wollen die Vorgaben erfüllen und stehen ebenso wie unsere Shareholder zum Pariser Klimaschutzabkommen.
Warum haben Sie sich gerade Weilheim als Standort ausgeguckt?
In Weilheim stünde eine Fläche der Größe, wie wir sie brauchen, zusammenhängend zur Verfügung. Mindestens genauso wichtig ist: Unsere heutigen Mitarbeiter sind hier in der Region. Sie arbeiten in Nabern und Esslingen und wohnen in der näheren Umgebung. Diese Mitarbeiter sind unser Kern-Know-how. Alles andere, ob Teststände oder Gebäude, lässt sich ersetzen. Die Mitarbeiter und das Wissen in ihren Köpfen sind aber unser wertvollstes Kapital. Weilheim bietet uns die besten Bedingungen aus allen bewerteten Alternativen.
Was würde passieren, wenn das Unternehmen wegziehen müsste?
Dies wäre ein Verlust für die ganze Region und ihre Zukunftsfähigkeit. Wir befürchten, wenn wir sehr weit weggingen, würden wir unsere Mitarbeiter verlieren – und das wäre eine große Herausforderung, um nicht zu sagen ein Rückschlag für die gesamte Technologie.
Immer wieder taucht die Frage auf, warum Sie nicht auf einer Industriebrache im Neckartal bauen ...
Wir haben in der Tat zusammen mit der Wirtschaftsförderung der Region Stuttgart und zusammen mit unseren Shareholdern geschaut: Gibt es Flächen, die heute nicht mehr gebraucht werden, die wir nutzen können? Eine Fläche in der benötigten Größe haben wir aber nicht gefunden.
Wäre es nicht möglich gewesen, die Fabrik auf zwei kleinere Standorte aufzuteilen?
Das hätte zwei riesige Nachteile. Erstens ist es bei einer neuen Technologie sehr wichtig, dass alle möglichst eng zusammenarbeiten. Wir spüren schon heute einen Nachteil, da ein Teil unserer Kollegen in Esslingen arbeitet und ein Teil in Nabern. Dazu käme der Verkehr zwischen den beiden Standorten. Er beansprucht nicht nur Zeit, sondern ist auch aus Umweltschutzgründen nicht gut. Das sehen wir als nicht passend zu unserem Produkt.
Mit welchen Stückzahlen und Absatzchancen rechnen Sie?
Wir sprechen hier von einer wirklichen Zukunftstechnologie. Aus den strengen CO2-Vorgaben ergeben sich sehr hohe Stückzahlen an emissionsfreien Fahrzeugen. Es geht also nicht um kleine Mengen. Nach allem, was wir wissen, werden für den Nutzfahrzeugbereich typische Großserien-Stückzahlen zustande kommen. Wir haben ja heute schon drei Kunden und sind offen für weitere, sodass die Nachfrage weiter steigen könnte. Das führt dazu, dass die Fahrzeuge wettbewerbsfähig sind. Eine Rolle spielt aber nicht nur der Fahrzeugpreis. Das Ganze hängt auch davon ab, dass eine Betankungsinfrastruktur aufgebaut wird. Sie muss parallel zu den Stückzahlen hochgefahren werden.
Kann sich die Brennstoffzelle denn gegen den E-Motor durchsetzen?
Der wirklich CO2-neutrale Transport der Zukunft geht nur mit beiden Technologien: mit batterieelektrischen und wasserstoffbasierten Antrieben. Das bedeutet, der Trend zur Brennstoffzelle ist nicht mehr umkehrbar. Gerade im Schwerlast-Fernverkehr, der erheblich zum CO2-Ausstoß beiträgt, ist die Brennstoffzelle technisch die beste Lösung. Zwar wäre eine ähnliche Reichweite auch mit einer Batterie möglich. Sie brächte aber erhebliche Nachteile bei Gewicht und Ladezeiten und würde den Spediteur damit Geld kosten. Daher liegt der klare Fokus in diesem Segment auf der Brennstoffzellentechnik.
Sehen Sie weitere Bereiche, in der die Brennstoffzelle punkten kann?
Wie wir am Beispiel Rolls Royce sehen, können Brennstoffzellensysteme sehr gut in der Notstromversorgung verwendet werden. Wir haben aber auch Anfragen aus anderen Segmenten, wo heute große Dieselmotoren verwendet werden. Auch diese Bereiche geraten wegen der Emissionen unter Druck. Es gibt übrigens auch erheblichen Druck von Kundenseite. Klimaschutz ist nicht mehr nur irgendeine Idee, die ein paar Firmen und Umweltschutzverbände haben, sondern Ziel der gesamten Bevölkerung.
Sie wollen in Weilheim 450 zusätzliche Arbeitsplätze schaffen. Sind da nur Experten gefragt?
Nein. Die Spezialisten sind größtenteils schon an Bord. Beim Ausbau in Weilheim werden wir Qualifikationen brauchen, wie sie in der Automobilindustrie üblich sind. Natürlich werden Ingenieure dabei sein, aber auch Mitarbeiter aus dem gewerblichen Bereich. Wir haben vor, Arbeitnehmer beruflich weiterzuqualifizieren, und wir wollen Ausbildungsplätze für typische Berufswege in der Automobilindustrie anbieten. Da unterscheidet sich die Brennstoffzelle nur sehr wenig von dem, was wir heute im Motorenbau benötigen. Außerdem kommen Arbeitsplätze im Qualitäts-, Personal- und Finanzwesen hinzu.
Also eine große Chance für Arbeitnehmer aus der Umgebung?
Absolut. Es werden langfristig Arbeitsplätze im Bereich des Verbrennungsmotors verloren gehen. Wir leisten also einen Beitrag zur Transformation. Wir hoffen auch, dass Weilheimer, die im Moment pendeln, künftig in Weilheim arbeiten. Sie haben dadurch mehr Zeit für die Familie – und tragen zur Senkung von Emissionen bei.
Sollte der Bürgerentscheid keinen Erfolg haben – gibt es einen Plan B?
Wir gehen davon aus, dass das Projekt so gut und überzeugend ist, dass auch die Bürger die Vorteile sehen, und möchten es daher in Weilheim umsetzen.
CO₂-neutrale Technik aus der grünen Fabrik
Eine „grüne Fabrik“ plant Cellcentric für den Standort Weilheim. Sowohl beim Bau als auch beim Betrieb will das Unternehmen auf Nachhaltigkeit setzen, ökologische Baustoffe und grüne Energie verwenden. Das Gebäude würde gemäß Vorgabe mit Photovoltaik ausgestattet, Dach und Fassaden könnten begrünt werden. Das Gelände soll so wenig wie möglich versiegelt werden. Beim Verwaltungsgebäude und den Testständen fasst Cellcentric mehrgeschossige Bauten ins Auge. Rund 30 000 Quadratmeter sind in einer ersten Stufe für den Produktionsbereich vorgesehen, weitere 30 000 können dazukommen. Zugunsten der Biodiversität sollen draußen nicht nur Rasenflächen, sondern insektenfreundliche Wiesen angelegt werden.
Produziert werden sollen in Weilheim fertige Brennstoffzellensysteme – das ist vergleichbar mit einer Motorenproduktion im Verbrennungsbereich. Im Werk werden einzelne Zellen gefertigt und zusammen mit allen Komponenten zu einem Aggregat montiert. Die Systeme liefert Cellcentric zu Daimler Truck und der Volvo Group. Dort werden sie in die Lkws eingebaut.
Wasserstoff möchte Cellcentric auf seinem Gelände über Photovoltaik und eventuell Wind erzeugen. Er wird für die Entwicklung und Tests in der Produktion benötigt. Der Strom, den die Brennstoffzellen im Testbetrieb erzeugen, soll in der Fabrik weiterverwendet werden. Und: Bei der Wasserstofferzeugung entsteht so viel Wärme, dass etwa 500 Weilheimer Haushalte mit Nahwärme versorgt werden könnten.
Vom Lieferverkehr her rechnet Cellcentric zunächst pro Tag mit 40 Nutzfahrzeugen in unterschiedlichen Größen. In der zweiten Ausbaustufe kämen noch mal 40 dazu.
Brennstoffzellen sind elektrochemische Zellen, die Energie aus Wasserstoff mit Sauerstoff aus der Umgebungsluft zu Elektrizität wandeln. Dabei entstehen als Nebenprodukte nur Wasser und Wärme – keine Schadstoffe oder Treibhausgase. Die hohe Energiedichte des Wasserstoffs erlaubt hohe Reichweiten ohne schwere Batterie. Auch das Tanken geht schnell und einfach. Daher gilt die Faustformel: Je schwerer die Beladung und je länger die zurückzulegende Fahrtstrecke, desto eher eignet sich die Brennstoffzelle als CO₂-neutrales Antriebskonzept.
Cellcentric ist ein Joint Venture der Daimler Truck und der Volvo Group, das 2021 gegründet wurde. Das Unternehmen entwickelt, produziert und vermarktet Brennstoffzellensysteme, hauptsächlich für Lkw. Dafür nutzt es das Know-how seiner Vorgängerunternehmen aus jahrzehntelanger Arbeit an Brennstoffzellen. Cellcentric möchte ein weltweit führender Hersteller von Brennstoffzellen werden. Mehr als 350 Mitarbeiter arbeiten zurzeit in Nabern, Untertürkheim, Esslingen und Burnaby in Kanada.