Das Gemeindehaus ist voll besetzt: Otto Kuhn, Edith Burgert und Ulrike Schweizer vom örtlichen Geschichtsverein haben zum Gedenken an den Dettinger Schicksalstag eingeladen. Zum 78. Mal jährt sich der Schreckenstag, an dem der Krieg mit einem Bombenangriff in Dettingen greifbar wurde und große Teile des kleinen Dorfs dem Erdboden gleichmachte sowie zahlreiche Häuser, Ställe und Familien zerstörte.
Nach einer kurzen Begrüßung durch die Vorsitzende des Geschichtsvereins, Ulrike Schweizer, ergreift Bürgermeister Rainer Haußmann das Wort: „In einer Gesellschaft, in der Ellenbogen, Gewalt und Egoismus immer mehr zutage treten und Krieg in diesem Ausmaß wieder
eine Rolle spielt, ist es umso wichtiger, sich gemeinsam an die Schrecken von 1945 zu erinnern, das Gemeindegedächtnis auf Vordermann zu bringen und über die Auswirkungen von damals nachzudenken. Anhand des Neubaus des Dettinger Rathauses beispielsweise neben der Kirche, die originalgetreu wieder aufgebaut wurde kann man die Geschichte unserer Gemeinde innerhalb von Minuten veranschaulichen.“
Für den Historiker und ehemaligen Geschichtslehrer Dr. Eberhard Sieber ist das das Stichwort: „Es gibt fast keine Stadt in Deutschland, die noch ihr ursprüngliches Gesicht hat und es wundert mich immer wieder, dass so wenig an die Bombardierung durch die amerikanische Luftwaffe erinnert.“
Sieber spricht von einem Tabu, von der Notwendigkeit, die Schuld der Deutschen hervorzuheben: „Zuwenig Menschen wissen von diesen furchtbaren Angriffen, obwohl große Teile der deutschen Städte zerstört wurden und dadurch unfassbares Leid über die Zivilbevölkerung hereinbrach.“
Der Historiker berichtet von Großstädten wie Pforzheim, Dresden, und Berlin, die den Brandbomben damals zum Opfer fallen und geht gleichzeitig der Frage „Warum eigentlich ausgerechnet Dettingen?“ auf den Grund. Anhand von beeindruckendem, historischen Bild- und Kartenmaterial dokumentiert Sieber den ursprünglichen Zustand Dettingens und das Ausmaß der Zerstörung nach der Bombardierung. Mit Hilfe von Dokumenten, Schreiben und Briefen, die unter anderem Otto Kuhn gesammelt hatte, zeigt Sieber, dass das deutsche Militär auf dem Weg zur so genannten Albrandstellung Unterschlupf in Dettingen suchte. Er erzählt von der unbedarften Landbevölkerung, die die Soldaten versorgte, und wie diese Hilfsbereitschaft der kleinen Gemeinde Dettingen schließlich zum Verhängnis wurde: „Die Alliierten entdeckten, dass Dettingen voll von Mitgliedern der Wehrmacht war. Eine Albrandstellung sollte um jeden Preis verhindert werden,“ erklärt Sieber.
„Bereits am 19. April schossen amerikanische Jagdflieger auf mich als kleiner Bub,“ beteuert einer der geladenen Zeitzeugen des Abends, Willy Kiedaisch. Eine Frau erzählt: „Im Alter von neun Jahren erlebte ich den Angriff am 20. April im Keller meiner Großeltern. Es war laut, und der Sand rieselte bei jedem Einschlag von den Wänden. Den Anblick, der sich mir beim Verlassen des Kellers bot, habe ich nie wieder vergessen: der Weltuntergang. Alles brannte und lag in Schutt und Asche. Schreiende Menschen und Tiere liefen umher. Wir mussten den Anblick einfach ertragen, wir konnten nichts dagegen tun.“ Weitere Erzähler sorgen mit Berichten über die Gräueltaten der „amerikanischen Retter“ für Betroffenheit und Gänsehaut im Saal.
Da kommen ein Musikstück des Ehepaars Trostel und Pfadfinder Olli Thaler mit seiner Erzählung von einer deutsch-amerikanischen Freundschaft und der daraus resultierenden Friedensbotschaft gerade recht: „Wir leben nun mal in einer zerrissenen Welt. Wir sind alle Opfer und Täter und sollten nicht verurteilen, sondern den Weg aus dem Trauma gehen. Dieser Weg führt über die Erinnerung, Leid, Tränen und Gnade zur Vergebung.“
Am Samstag, 22. April 2023, findet um 14 Uhr, im Rahmen einer weiteren Gedenkveranstaltung, die Enthüllung einer Gedenktafel vor der Dettinger Kirche statt.