Bleischwer liegt die Trauer im Raum. Etwa ein Dutzend Frauen und Männer sitzen im Kreis um einen Tisch herum und schweigen. Dann spricht eine. Dann ein anderer. Noch einer.
Sie sind alle um die 30 Jahre alt, also im Alter von Luca S., der am vergangenen Donnerstag in Esslingen getötet wurde. Es sind seine Freunde. Im Raum steht auch eine bleischwere Frage: Warum haben Polizei und Justiz die Tat nicht verhindern können? Denn die Tötungsabsicht des mutmaßlichen Täters war lange bekannt. Das Opfer wusste davon. Der Vater des Opfers wusste davon. Alle, die in diesem Raum versammelt sind, wussten es. Die Polizei ebenfalls. Denn es muss etliche Anzeigen gegen den 61-Jährigen gegeben haben. Doch die Menschen, die sich an die Polizei wandten, fühlten sich nicht ernst genommen. „Es macht keinen Sinn, zur Polizei zu gehen“, sagt einer. Die anderen nicken. Sie haben nicht nur einen guten Freund verloren. Ihnen schwindet gerade auch das Vertrauen in den Staat und seine Institutionen.
Wer war der mutmaßliche Täter?
Wer war der Mann, der in dringendem Verdacht steht, Luca S. umgebracht und das Haus in der Esslinger Altstadt angezündet zu haben, bevor er sich selbst tötete? Fest steht bislang: Der 61-Jährige war Mieter in dem Haus, Luca S. der Sohn des Vermieters. Und einen Tag, nachdem er Luca S. und sich selbst tötete, hätte der Mann aufgrund einer Räumungsklage ausziehen müssen. Also eine Mietstreitigkeit, die völlig eskaliert ist?
Da muss erst einer sterben, bis die Polizei kommt.
Luca S., der Sohn des Vermieters soll noch wenige Tage vor seinem Tod darauf hingewiesen haben, dass es keinen Sinn hätte, zur Polizei zu gehen.
Nach den Erzählungen der Freunde, von denen einige selbst zeitweise in dem Haus wohnten, steckt etwas anderes dahinter: Der Mieter war demnach offenkundig stark gestört. Er terrorisierte über eine lange Zeit hinweg seinen Vermieter, dessen Sohn und die Freundin des Sohnes, die am Tattag schwer verletzt wurde. Es existiert eine Tonaufnahme, die kaum gruseliger sein könnte. In einer mit dunklen Metaphern durchsetzten Sprache und mit einem irritierenden Kichern droht der Mann zwei Bewohnern, sie früher oder später „mitzunehmen“. Kontext und Stimmlage deuten darauf hin: Dieses „mitnehmen“ verheißt nichts Gutes. Beide gehen auf den Rat einer befreundeten Juristin zur Polizei. Dort tut man das, so jedenfalls nehmen es die beiden wahr, als Nachbarschaftsstreit ab. Nachbarn könne man sich halt nicht aussuchen. Die beiden stellen keine Anzeige.
Video vom Tattag
Wie sehr das Vertrauen in die Behörden bei den Bewohnern des Hauses zuletzt gesunken war, soll auch ein Video vom Tag der Tat zeigen, das zeitweise im Internet zu sehen war. Darin ist die Freundin von Luca S. zu sehen, die sich nur mit einem Sprung durch das Fenster aus dem brennenden Haus retten konnte. Obwohl schwer verletzt und unter Schock, schreit sie, so erzählen es die Freunde, dass es keinen Sinn mache, die Polizei zu rufen. Luca S. selbst soll noch wenige Tage vor seinem Tod gesagt haben: „Da muss erst einer sterben, bis die Polizei kommt.“
Es gibt viele Anzeigen gegen den Mieter, der sich nach Aussage eines Nachbarn nicht nur in metaphorischen Andeutungen verlor, sondern auch eindeutig drohte: „Erst erschieße ich deinen Sohn – das tut der Familie am meisten weh – und dann brenn’ ich das Haus ab.“ Er gab auch mit einem selbst gebauten „Schießapparat“ an – bevor er seine Ankündigung am Donnerstag mit einer selbst gebauten Schusswaffe wahr machte.
Eine Wohnung wie eine Höhle
Es gibt Bilder aus der Wohnung, die zeigen, wie der Mann lebte und wo er seine Waffen herstellte. Die Fenster waren verschalt, die Wohnung immer verdunkelt. Innen sah es eher aus wie in einer Garage oder einer Höhle, in der gewerkelt wird. Im Zentrum: eine Werkbank, wo der Mann vermeintliche Kunst herstellte – aber mit hoher Wahrscheinlichkeit auch die Waffen. Zu sehen ist auf einem Bild eine Art Kunstwerk: ein Bogen mit scharfen Zacken, der an eine überdimensionierte Krone erinnert. Der Schlafplatz des Mannes, der sich selbst als Künstler bezeichnete: eine Matratze auf dem Boden. An der Wohnung hängt ein Schild: „Paul und Paula“. Die Namen sind durchgestrichen. Paul und Paula – so nannte der Mieter Luca S. und dessen Freundin – aus irgendeinem Grund sprach er sie nicht mit ihren realen Namen an, erzählen die Freunde des Opfers.
Und der 61-Jährige flößte offenbar seinen Mitbewohnern große Angst ein. Luca S., der von allen als positiver, weltoffener Mensch beschrieben wird, wirkte auf seine Freunde in den vergangenen Wochen mitgenommen. Bekannten erzählte er, wie sich die Lage bedrohlich zuspitzte. Es habe Handgreiflichkeiten und höchst gefährliche Situationen gegeben. Er habe Angst um sein Leben und um das seiner Lieben. Kurz vor dem Räumungstermin überlegten sich den Berichten der Freunde zufolge sowohl Luca S., seine Freundin als auch der Vater, vorübergehend aus dem eigenen Haus auszuziehen. Um erst dann wieder zurückzukommen, wenn der Mieter weg wäre. Doch dieser schaffte es, die Familie zu täuschen – und bat um ein Versöhnungsgespräch.
Lückenlose Aufklärung gefordert
Und nun? Die Freunde von Luca S. verlangen eine lückenlose Aufklärung. Einer von ihnen, Rick Nadler, fordert: „Da müssen Leute zur Verantwortung gezogen werden.“ Auch, damit so etwas nicht noch mal passiere.