Gesundheit
„Die Einwohnerzahl der Landkreise muss eine Rolle spielen“

Auch die Bürgermeister der Landgemeinden der Kreise Esslingen und Göppingen kritisieren die Kürzung bei der Zahl von Notfallpraxen. Ein Arzt wirbt dagegen um Verständnis für die Maßnahmen. 

Die Notfallpraxis und die Zentrale Notaufnahme (ZNA) sind Nachbarn in der Medius-Klinik in KIrchheim. Vertreter der Kliniken befürchten, dass im Falle einer Schließung noch mehr Patientinnen und Patienten in die ZNA kommen. Foto: Carsten Riedl

Die Pläne der Kassenärztlichen Vereinigung Baden-Würt­temberg für eine Reform des ärztlichen Bereitschaftsdienstes sorgen in den Landkreisen Esslingen und Göppingen weiter für Kritik. Nun haben sich auch die Bürgermeisterinnen und Bürgermeister von Landgemeinden zu Wort gemeldet. In einem offenen Brief an Gesundheitsminister Manfred Lucha heißt es: „Künftig sollen pro Landkreis nur noch ein bis zwei Notfallpraxen betrieben werden. Dieses Kriterium spiegelt nicht die Lebenswirklichkeit in unserem Land wider. Ein dicht besiedelter Landkreis wie der Landkreis Esslingen ist mit teils sehr dünn besiedelten Strukturen in anderen Landesteilen nicht vergleichbar. Die Einwohnerzahl und -dichte muss bei der Kriterienfestlegung eine wesentliche Rolle spielen.“ Die Initiative hatten die Bürgermeister Florian Schepp aus Holzmaden sowie Sascha Krötz aus Schlierbach ergriffen. 

„Wenn 95 Prozent der Bevölkerung in 30 Minuten eine Notfallpraxis erreichen, so die Argumentationslinie der KVBW, dann ist das eine schön gerechnete Situationsbeschreibung, die die Lebenswirklichkeit der Menschen in den ländlicheren Gebieten nicht abbildet“, heißt es weiter. Beispiel Holzmaden: Wenn die Notfallpraxis in Kirchheim schließen würde, müsste man nach Nürtingen. „Mit dem eigenen Auto mag das klappen, auch wenn es von Holzmaden drei Mal so lange dauert. Mit dem vorhandenen ÖPNV-Angebot ist das jedoch völlig ausgeschlossen“, sagt Florian Schepp.

Kirchheim werde aber ebenso von Patientinnen und Patienten aus dem Landkreis Göppingen gern besucht. Der Zuzugsraum erstrecke sich von Neidlingen und dem Weilheimer Raum über das Lenninger Tal mit Albhochfläche, Wendlingen, Wernau bis nach Reichenbach und eben in den Landkreis Göppingen mit Schlierbach über Ebersbach und Zell u. A. bis nach Aichelberg, heißt es weiter.

Auch die Landespolitik äußert sich kritisch: Natalie Pfau-Weller beklagt, „dass im Vorfeld einer derart weitreichenden Entscheidung, die die Gesundheitsversorgung der Bevölkerung direkt betrifft, keine intensivere Kommunikation mit den politischen Entscheidungsträgern auf lokaler Ebene stattgefunden hat.“ Der Grünen-Abgeordnete Andreas Schwarz sagt: „Diese Praxen entlasten die Notaufnahmen und gewährleisten, dass Menschen nicht ohne medizinische Unterstützung bleiben, wenn ihr Hausarzt nicht erreichbar ist.“

Florian Schepp und seine Kollegen treibt auch die Sorge über Politikfrust um: „Wenn bei der Bevölkerung der Eindruck entsteht, die KVBW kann tun und lassen, was sie möchte, und die staatliche Ebene entzieht sich hier ihrer steuernden und lenkenden Funktion, ist das fatal und entzieht das stark beschädigte Vertrauen in die Handlungsfähigkeit der politischen Ebene weiter massiv.“

 

Arzt: „Jeder hat Verantwortung“

Der fachübergreifende Ärzteverband MEDI Baden-Württemberg unterstützt dagegen die geplante Neustrukturierung. „Immer mehr Ärztinnen und Ärzte verabschieden sich in den Ruhestand, der niedergelassene ärztliche Nachwuchs fehlt, sodass wir unsere Ressourcen für den ärztlichen Bereitschaftsdienst künftig nicht mehr in dem gleichen Maße zur Verfügung stellen können. Das bedeutet aber nicht, dass die Menschen in Baden-Württemberg akut nicht mehr ausreichend versorgt werden können“, betont der MEDI-Vorsitzende Dr. Norbert Smetak, Kardiologe in Kirchheim.
Eine Neustrukturierung des Notfalldienstes sei dringend erforderlich, weil der Bereitschaftsdienst an die aktuellen Gegebenheiten angepasst werden müsse. Smetak appelliert auch an die Gesellschaft: „Jeder Einzelne hat eine Verantwortung im solidarischen Gesundheitssystem und sollte ehrlich hinterfragen, ob die Beschwerden auch nach dem Wochenende abgeklärt werden können. Wir können nicht für jede Unpässlichkeit oder
Verunsicherung 24 Stunden am Tag kontaktiert werden. Für die akuten
Fälle werden wir jederzeit zur Verfügung stehen.“