Die Eskalation des Streits über eine neue Flugroute ist vorerst gebremst: In einer Videoschalte haben sich die Teilnehmer dieser Tage darauf geeinigt, eine Empfehlung der Fluglärmkommission an den Bund herauszuzögern. Damit wird das Verfahren entschleunigt. Außerdem soll es ein sogenanntes Gesamtlärmgutachten geben, an dessen Finanzierung sich das Land beteiligt. Betroffene Kommunen, die nicht Mitglied der Fluglärmkommission sind, sollen stärker eingebunden werden und „mindestens“ ein Gastrecht bekommen.
Sollte am Ende dieses Prozesses die Lärmkommission noch immer zu einem positiven Ergebnis kommen, soll es einen einjährigen Probebetrieb geben, der auf zwei Flüge je Stunde zu begrenzen sei.
Eingeladen hatten als Streitschlichter Ministerpräsident Winfried Kretschmann und Verkehrsminister Winfried Hermann (beide Grüne). Zudem nahmen betroffene Oberbürgermeister und Bürgermeister, Mitglieder der Fluglärmkommission sowie einige Abgeordnete teil. Kretschmann und Hermann betonten mehrfach, dass sich das Land lediglich in einer moderierenden Rolle sieht.
Ursprünglich sollte schon am 2. November eine Empfehlung abgegeben werden – und zwar zugunsten der neuen Route. Doch der Widerstand betroffener Gemeinden und Bürger schwoll in den vergangenen Wochen an. Viele Fragen schienen ungeklärt, sodass es nun zu der spätabendlichen Krisensitzung kam. Einer der Kritiker einer schnellen – aus seiner Sicht vorschnellen – Entscheidung, Oberbürgermeister Johannes Fridrich aus Nürtingen, sprach von einem „sachlichen, guten Miteinander“. Hermann betonte, es sei ihm wichtig, „dass die Vorschläge, die als Ergebnis der Besprechung festgehalten wurden, helfen, eine akzeptable Lösung zu finden.“ Kretschmann kommentierte: „Es ist uns ein großes Anliegen, dass wir zu einer fairen und konstruktiven Lösung für alle Betroffenen kommen. Es ist deshalb auch richtig, wenn sich die Fluglärmkommission dafür die notwendige Zeit nimmt.“
Und das ist der Hintergrund: Geplant ist eine neue Flugroute in den Süden unter ganz bestimmten Windverhältnissen. Beantragt wurde die neue Route von den Luftfahrtgesellschaften Lufthansa und Germanwings. Der Vorsitzende der Fluglärmkommission, Ostfilderns Oberbürgermeister Christof Bolay, sprach sich für einen einjährigen Probebetrieb und eine entsprechende Empfehlung aus, während Nürtingens Oberbürgermeister Johannes Fridrich kritisierte, dass noch etliche Informationen fehlten, um bereits am 2. November eine solche Empfehlung abgeben zu können. Zuletzt positionierte sich auch der Rathauschef von Leinfelden-Echterdingen, Roland Klenk, gegen eine Empfehlung der Fluglärmkommission zum jetzigen Zeitpunkt.
10 000 Unterschriften gesammelt
Insgesamt sind es ein knappes Dutzend Kommunen, die durch die neue Abflugroute mehr Fluglärm abbekommen würden, darunter Nürtingen, Neuhausen, Denkendorf, Köngen, Wolfschlugen und Aichtal. Es gibt auch eine Bürgerinitiative „Vereint gegen Fluglärm“, die bereits knapp 10 000 Unterschriften gesammelt hat. Andere Kommunen wie Ostfildern, Altbach, Deizisau und Plochingen erhoffen sich durch die neue Route eine Entlastung.
Fridrich sieht vor allem drei Punkte ungeklärt. Er geht davon aus, dass eine Änderung der Flugroute zu einem komplizierten Planfeststellungsverfahren führen würde. So sah das 2019 offenbar auch die Deutsche Flugsicherung. Ein zweiter Punkt, den Kritiker Fridrich anführt, betrifft die Flugsicherheit. Drei Varianten der neuen Route scheinen von den Standards der Internationalen Zivilluftfahrtorganisation ICAO deutlich abzuweichen. Die ICAO ist eine UN-Organisation, die Sicherheitsstandards für den internationalen Flugverkehr erarbeitet hat. In einem Schreiben der Deutschen Flugsicherung ist sogar die Rede von extremen Abweichungen. Fridrich möchte dies dringend klären.
Fridrich will schnelle Klärung
Schließlich führt Nürtingens Oberbürgermeister noch einen dritten Punkt an, der dafür spreche, eine Empfehlung später abzugeben. Es sei keineswegs geklärt, ob unterm Strich tatsächlich mehr Bürger entlastet als belastet werden. Hier liegt Fridrich in deutlichem Dissens mit Bolay, dem Oberbürgermeister von Ostfildern. Bolay sagte in einem Interview: „Die neue Flugroute ist eine große Chance. Rund 90 000 Menschen würden sehr stark profitieren von der neuen Route; die Zahl der Betroffenen würde sich halbieren.“
In diese Richtung argumentierte auch der Bürgermeister von Deizisau, Thomas Matrohs. Er geht eigenen Angaben zufolge davon aus, dass es sich lediglich um eine mehrwöchige Verzögerung handelt. „Das ist gar kein Makel. Der Termin sollte ja der Entscheidungsfindung dienen.“
Ergebnisse und Bewertungen der Krisensitzung
Termin Die Fluglärmkommission wird nicht, wie ursprünglich vorgesehen, bereits am 2. November eine abschließende Empfehlung abgeben.
Gutachten Es wird ein unabhängiges Gesamtlärmgutachten geben. Zudem soll eine Expertengruppe die Aussagekraft eines solchen Gutachtens noch einmal bewerten.
Probebetrieb Sollte die Fluglärmkommission zu einem späteren Zeitpunkt die neue Route empfehlen, soll es ein Jahr lang einen Probebetrieb geben. Dieser soll auf zwei Flüge je Stunde begrenzt werden.
Gastrecht Betroffene Kommunen, die bisher noch nicht Mitglied der Fluglärmkommission sind, sollen im weiteren Verfahren mindestens ein Gastrecht in der Fluglärmkommission bekommen.
Kretschmann „Der Austausch hat gezeigt, dass es wichtig war, alle Beteiligten an einen Tisch zu holen, um das weitere Verfahren zu besprechen, fachliche Argumente auszutauschen und offene Fragen zu klären“, sagte Ministerpräsident Winfried Kretschmann nach der Krisenbesprechung.
Fridrich „Es war ein sachliches, gutes Miteinander. Das Gespräch hat gezeigt, dass noch viele Fragen geklärt werden müssen“, lautet die Meinung von Nürtingens Oberbürgermeister Johannes Fridrich.
Matrohs „Ich bin froh über die zahlreichen Klarstellungen in diesem Termin. Nach der Diskussion kann auf einer sachlichen Grundlage entschieden werden“, betonte Thomas Matrohs, Bürgermeister der Gemeinde Deizisau. jmf