Endloses Warten auf einen Handwerkertermin, Betreuungsnotstand in Heimen und Kitas, geschlossene Kneipen – den Personalmangel in vielen Berufen bekommt im Alltag fast jeder zu spüren. Wenn die ersten Babyboomer in ein paar Jahren in Rente gehen, so rechnen Experten, spitzt sich die Lage zu. Demnach werden der Wirtschaft im Südwesten bis zur Mitte der kommenden Dekade mehr als 860 000 Fachkräfte fehlen.
Das macht viele Wirtschaftsvertreter dankbar für jeden Erfolg. Auch solche, wie sie der Landkreis im neuen Jahr vermeldet: Das Kümmerer-Modell wirkt. Seit 2016 läuft das Projekt „Integration durch Ausbildung,“ mit dem der Kreis unterstützt vom Land und in Partnerschaft mit IHK und Handwerkskammer Zuwanderern den Einstieg ins Berufsleben ermöglichen will. Nach fünf Jahren gilt das Unterfangen, an dem ein breites Netzwerk aus Wirtschaft und Verwaltung beteiligt ist, als Erfolg. Deshalb wird die Projektstelle nun zumindest bis Jahresende verlängert, in der Hoffnung, dass mehr daraus wird.
Dass Migration in einer alternden Gesellschaft ein wichtiger Baustein ist, um die Wirtschaft am Leben zu halten, darin sind alle Beteiligten sich einig. Vor allem Handwerk, Gastronomie und Pflegeberufe, die besonders stark unter Fachkräftemangel leiden, profitieren von solchen Anstrengungen.
Monika Brucklacher ist seit vier Jahren das Gesicht hinter dieser Arbeit. Als sogenannte „Kümmerin“ ist sie Anlaufstelle für junge Migranten, die eine Lehrstelle suchen. Von den 240 Menschen aus unterschiedlichsten Ländern hat sie 155 eine Ausbildung vermittelt. Das entspricht einer Quote von 64 Prozent. Knapp die Hälfte stammt aus dem Bürgerkriegsland Syrien, aber auch aus Ländern wie Gambia, Afghanistan und dem Irak. Nach dem Abebben der Flüchtlingswelle vor fünf Jahren steigen die Zuweisungszahlen im Kreis seit Oktober wieder deutlich an.
Es sind Geschichten von großen Hoffnungen, auch von Enttäuschungen und immer wieder von viel Glück. „Geschichten, die einem auch ans Herz gehen“, sagt Monika Brucklacher. Die des Jungen aus Gambia, der mit 15 Jahren alleine nach Deutschland kommt, hier erst den Hauptschulabschluss und dann eine Lehre im Straßenbau macht und heute seiner Schwester im Heimatland die Ausbildung zur Lehrerin finanziert. Oder die des jungen Syrers, der sich bei der Kreissparkasse in Esslingen zum Bankkaufmann ausbilden lässt und von einer Karriere als Investmentbanker träumt. Sie alle
Ganz so einfach, wie es sich anhört, läuft es in der Praxis jedoch nicht. Größtes Problem ist die Sprache, die Grundvoraussetzung ist, um in Prüfungen zu bestehen. Viele Enttäuschungen sind zudem programmiert. Etwa, wenn Qualifikationen aus dem Herkunftsland nicht den geforderten Standards entsprechen oder wenn Gepflogenheiten im deutschen Arbeitsalltag Bewerbern fremd sind. Deshalb erfolgt der Einstieg meist über ein Praktikum, begleitet von einer sogenannten Kompetenzanalyse. Auch der Aufenthaltsstatus wird nicht selten zum Hindernis. Zwar dürfen Asylbewerber noch während ihr Verfahren läuft eine Ausbildung beginnen. Die kann jedoch abrupt enden, wenn der Antrag abgelehnt wird und Ausweispapiere fehlen. „Der Identitätsnachweis ist vor allem in afrikanischen Ländern ein Problem“, weiß Monika Brucklacher, die auch Menschen mit geringer Bleibeperspektive betreut. 19 von ihnen gelten für die Dauer der Ausbildung als geduldet. Was danach kommt, entscheidet sich häufig im Einzelfall.
Für den Esslinger Landrat Heinz Eininger ist das der Grund, weshalb politisch nachjustiert werden muss. Für ihn ist das bundesweit einmalige Projekt, an dem rund hundert Ausbildungsbetriebe beteiligt sind, zwar ein Erfolgsmodell. Eine Projektfinanzierung sei jedoch keine Dauerlösung. „Was Erfolg hat, muss irgendwann ins Regelsystem“, adressiert Eininger seine Forderung an die Berliner Ampel-Koalition. „Die Frage ist, was kann man ausländerrechtlich besser machen.“
Geregelte Zuwanderung
Den Ruf nach einem zeitgemäßen Zuwanderungsgesetz unterstützen auch die Branchenvertreter in Industrie und Handwerk. Zehn Prozent der Azubis in der Region Stuttgart sind inzwischen Geflüchtete. „Unsere Mitglieder halten große Stücke darauf“, bestätigt Fabian Weber, Geschäftsführer der Kreishandwerkerschaft. Aus gutem Grund: „Die Auftragsbücher sind voll, aber die Mitarbeiter fehlen.“ Ähnlich sieht es die Präsidentin der IHK-Bezirkskammer Esslingen-Nürtingen, Heike Gehrung-Kauderer. Der Fachkräftemangel werde von der Wirtschaft inzwischen als größtes Zukunftsrisiko betrachtet. Sie sagt: „Von diesem Projekt profitieren beide Seiten.“
Frauen sind schwerer zu erreichen
Die junge Syrerin, die als Erzieherin in der Kita arbeitet oder die Frau aus Gambia, die nach ihrer Ausbildung auf der Pflegestation im Seniorenheim beschäftigt ist, solche Beispiele gibt es auch im Kreis Esslingen.
Trotzdem ist der Anteil der Frauen, die nach der Flucht einen Weg ins Berufsleben finden, vergleichsweise gering. Nur zwölf Prozent derer, die am Projekt „Integration durch Ausbildung teilnehmen,“ sind weiblich. Dabei sind rund ein Drittel der Asylsuchenden im Kreis Frauen. Die Mehrheit davon stammt aus Ländern Afrikas.
Monika Brucklacher, die als Projektleiterin Geflüchtete in Fragen zu Ausbildung und Beruf berät, sieht trotz Vollauslastung dringenden Handlungsbedarf beim Thema Frauen. Es werde inzwischen darüber nachgedacht, spezielle Frauen-Sprechtage einzurichten, sagt sie. bk