Zwischen Neckar und Alb
Die Landesbühne legt los

Kultur Die Esslinger Landesbühne stellt ihren Spielplan der Saison 2023/24 vor – den letzten des Intendantenduos Friedrich Schirmer und Marcus Grube. Von Martin Mezger

Ganz Esslingen plant oder diskutiert die Verkehrsberuhigung. Doch auf einer kleinen Fläche mitten im Zentrum wird auch in Zukunft gerast, geflitzt, auf die Tube gedrückt, als gäbe es weder Verkehrswende noch Tempo 30. Allerdings dürfte die CO2 -Bilanz bei diesen Bleifuß-Orgien äußerst erfreulich ausfallen, und mit schweren Unfällen ist auch nicht zu rechnen. Schauplatz der wilden Autojagden ist die Esslinger Landesbühne (WLB), die die rasenden Boliden zum Beispiel aus „Blues Brothers“ einrollen lässt – nebst Patrick Barlows parodistischem „Messias“ – der andere Top Act „im Auftrag des Herrn“ im Spielplan 2023/24, vorsichtig angekündigt als „frei nach dem Film von John Landis“. Denn ganz eins-zu-eins lässt sich der spektakuläre Anarcho-Komik-Kultstreifen von 1980 eben doch nicht auf die weltbedeutenden Bretter biegen. Wo er möglicherweise ganz andere Qualitäten entwickelt – und das gilt laut WLB-Intendant Marcus Grube sogar für eine der allerspektakulärsten Szenen: „Man kann Autoverfolgungsjagden im Theater ganz wunderbar erzählen – ohne ein einziges Auto auf der Bühne.“

 

„Man kann Autoverfolgungsjagden im Theater wunderbar erzählen – ohne ein einziges Auto auf der Bühne.
Marcus Grube
Intendant der WLB

Eine Steilvorlage für den Intendantenkollegen Friedrich Schirmer, der gar „einen Dialog zweier Fluchtautos“ verheißt, und zwar in der Inszenierung von Alfred Döblins „Berlin Alexanderplatz“ – übrigens keine Dramatisierung des berühmten Romans von 1929, sondern basierend auf Döblins eigener Hörspielfassung der Geschichte vom halb kriminellen, halb gutmütigen, so labilen wie brutalen Franz Biberkopf, der im Dschungel der Großstadt nach einem anständigen Leben sucht.

Und wie es sich gehört, zieht das geheime Saisonmotto seine Überholspur auch in die Kinder- und Jugendsparte: Auch Laura Tetzlaff, neue Leiterin der Jungen WLB, kann in ihrem ersten eigenen Spielplan mit einer chaotischen Autofahrt aufwarten, nämlich dem äußeren Roadtrip von „Mein innerer Elvis“ um die 15-jährige Antje, die sich uncool und zu dick findet, zudem unzeitgemäßer Elvis-Fan ist.

Gewohnte Rasanz wiederum prägt die dem Gastspielmarkt geschuldete frühe Präsentation des Spielplans mit über einem Jahr Vorsprung. Als Besonderheit mischt sich eine Mobilität anderer Art ein: Es ist der letzte gemeinsame Spielplan des Intendantenduos Schirmer/Gruber, deren Vertrag im Sommer 2024 endet. Bewegung also an der WLB-Spitze.

Nicht nur Autos, auch ein Ozeandampfer kreuzt 2024 in der Landesbühne auf, und zwar der HAPAG-Luxusliner St. Louis. Dessen Odyssee im Jahre 1939 war bittere Realität. 937 deutsche Juden sollten per Sonderfahrt nach Kuba dem Naziterror entkommen. Doch die kubanische Regierung zog kurz vor der Ankunft die Visa zurück. Es begann eine Irrfahrt, in jedem Hafen wurden sie abgewiesen, bis die drohende Rückkehr nach Deutschland in letzter Minute abgewendet wurde.

So bleibt der Spielplan 2023/24 dem Schirmer-Grube’schen Konzept der vergegenwärtigenden Rückblicke treu, der Betrachtung von Historie samt ihrer Botschaft ans Heute. Mitten hinein in die aktuelle Debatte um Energie und Gerechtigkeit gegenüber künftigen Generationen platzt das Atomkraft-Drama „Die Kinder“. Die umgekehrte Generationenfrage stellt „Ruhe, hier stirbt Lothar!“, eine Hospiz-Komödie mit Witz, Melancholie und desillusionierendem Ausgang.

Die jugendliche Schiene, nunmehr in Laura Tetzlaffs Weichenstellung, bringt mit der Sozialtragikomödie „Salon Salami“ Milieudarstellung auf Augenhöhe, mit dem Mäusemusical „Anton“ vorweihnachtliches Musiktheater, mit „Und alles“ ein philosophisches Stück über die Chance, trotz apokalyptischer Nachrichtenlage die Zukunft zu gestalten: ein „Aufruf zum Handeln“, sagt Tetzlaff.

 

Corona, Inflation und Fragezeichen

Lockdowns Die Zäsur kam für die Esslinger Landesbühne am 13. März 2020 mit dem ersten Corona-Lockdown – mitten in einer Spielzeit, die von der Besucher- und Gastspielbilanz her sehr gut lief, wie Verwaltungsdirektorin Vera Antes berichtet. Auch die Saison 2020/21 begann in einer hoffnungsfrohen Corona-Lücke vielversprechend, bis der nächste (und weit längere) Lockdown zuschlug. Jetzt sind seit Juni zwar alle Beschränkungen aufgehoben, aber das Publikum bleibt offenbar vorsichtig: „Das Haus füllt sich über den freien Verkauf nicht mehr so schnell“.


Weitere Aussichten Für die Saison 2022/23 gebe es eine erfreuliche Nachfrage auf dem Gastspielmarkt, vermeldet die Verwaltungsdirektorin. Doch neben einer möglicherweise erneut aufflammenden Pandemie schlägt nun die Inflation als Folge des Ukraine-Kriegs zu: Die hohen Sprit- und vor allem die hohen Energiepreise mit der Gefahr unwohl temperierter Mehrzweckhallen könnten das Gastspielgeschäft kräftig vermasseln. Ein großes Fragezeichen sieht Antes über der Saison 2023/24, die ab sofort in die Gastspielorte verkauft wird. Zum Glück habe die Landesbühne selbst ein treues Abonnenten-Stammpublikum. mez