Silvio Krüger steht mit einer Hairpin in der Hand im Technologiezentrum der Firma Gehring Technologies in Ostfildern. Die kupferne „Haarnadel“ ist eines von mehreren Teilen, das in Elektromotoren verbaut wird. „Gehring hat sich auf die Transformation in der Automobilindustrie eingestellt und entwickelt nun Anlagen für die E-Mobilität“, erklärt der Geschäftsführer. Dafür hat Gehring nicht nur eine Kooperation mit Wafios für einen Verbund bei Fertigungssystemen für die Statorenproduktion geschlossen, sondern auch das Technologiezentrum mit neuen Maschinen ausgerüstet. Ein siebenstelliger Betrag ist dafür investiert worden. Die konkrete Summe möchte Geschäftsführer Michael Nagel nicht nennen.
Der 47-jährige Betriebswirt kommt von der Nagel Gruppe aus Nürtingen. Das Familienunternehmen hatte die insolvente Firma Gehring übernommen. Die Vorgängergeneration habe Jahrzehnte um die Weltmarktführerschaft bei Hon-Technologie gekämpft, aber seit der Gehring-Insolvenz und dem Aufkauf der Nummer eins vor einem Jahr durch Nagel ist dieses Kopf-an-Kopf-Rennen beendet, sagt Nagel. Im Dezember ist das ein Jahr her. Seitdem fahren die beiden weiterhin eine Zwei-Marken-Strategie. „Die einen bestellen blau, das ist die Firmenfarbe von Nagel, und die anderen rot, das ist die Farbe von Gehring“, so Nagel.
Die Hon-Technologie, einst von Gehring erfunden, ist ein zerspanendes Feinbearbeitungsverfahren für fast alle Werkstoffe. Sie stellt in der Produktion den letzten Fertigungsprozess dar. Zu den Topkunden von Gehring zählen Volkswagen, BMW, Daimler, Ford und General Motors, aber auch ein italienischer Sportwagenhersteller.
Derzeit macht der Anteil des Verbrennungsmotors 80 Prozent am Umsatz aus, die E-Mobilität 20 Prozent. 60 Prozent davon werden aktuell in Asien und 25 bis 30 Prozent in Deutschland und den USA erzielt. „Service und Aftersales laufen global sehr gut, besonders auch in China“, sagt Krüger. Bis 2025 sollen Verbrennungsmotor und E-Mobilität jeweils die Hälfte am Umsatz ausmachen.
Zwölf Monate Vorlaufzeit haben Projekte bei Gehring normalerweise. Deshalb wird sich die derzeitige Lieferkettenproblematik erst 2022 auswirken. Für dieses Jahr peilt Gehring einen Umsatz von rund 65 Millionen Euro an und schwarze Zahlen. „Wir sind mit dem Ergebnis zufrieden“, so Nagel.
Ob es für Masken Anschlussverträge gibt, ist ungewiss
Weniger glücklich ist das Unternehmen mit der Entwicklung seiner Maskenproduktion, in der 15 Mitarbeiter beschäftigt sind. Sie wurde im vergangenen Jahr aufgebaut, als Masken Mangelware waren und die Bundesregierung die Produktion in Deutschland haben wollte. Mehrere Millionen Masken pro Monat werden seither produziert, nachdem die Firma einen Großauftrag der Bundesregierung erhalten hatte. Der läuft zum Ende des Jahres aus. Ob es Anschlussverträge gibt, ist ungewiss. Zwar zieht der Verkauf von Masken in den vergangenen beiden Wochen wegen steigender Coronazahlen im Online-Vertrieb wieder an. Nur mit dem Verkauf an Endverbraucher rechnet sich die Produktion aber nicht. Allein der Einkaufspreis für das aus Deutschland stammende Grundmaterial liegt über dem Verkaufspreis der Masken aus China. „Da sind wir chancenlos. Da können wir preislich nicht konkurrieren“, sagt Nagel.
Trotzdem wird Nagel in der Messe in Stuttgart vier neue Automaten aufstellen. Zwei waren bislang auch am Flughafen. Doch nur der im Abflugbereich bringe Umsatz. Masken jedenfalls, das ist den beiden Unternehmenslenkern von Gehring klar, werden nur einen kleinen Teil am Umsatz ausmachen und ein rückläufiger Markt sein. Gesetzt wird auf den Zukunftsmarkt E-Mobilität.
In Ostfildern hat die
Gehring-Gruppe 240 Mitarbeiter
Historie 1926 gründet Christoph-Willi Gehring, Technischer Direktor der Automobilwerke Peter & Moritz, in Naumburg die Firma Gehring. Entwicklungen und Patente für Werkzeuge, Maschinen und Messtechnik ermöglichen ein schnelles Wachstum.
Umzug Nach der Enteignung und Umsiedlung nach Ostfildern entwickelt Gehring Technologien für die Massenproduktion und komplexe Anwendungen für die Automobilindustrie. 1979 wird in Ostfildern die Diato GmbH + Co. KG gegründet. Sie produziert die Diamantleisten als Schleifmittel, 1989 wird die erste Numerische Steuerungs (NC)-Maschine vorgestellt. 1995 präsentiert Gehring die digitale Honsteuerung und wird Weltmarktführer auf diesem Gebiet. 2008 gerät das Familienunternehmen in Schieflage. Nach der Insolvenz steigen 2009 verschiedene Finanzinvestoren ein. Im August 2020 ist Gehring erneut insolvent.
Übernahme Die Nagel-Gruppe aus Nürtingen übernimmt im Dezember 2020 den langjährigen Konkurrenten. Die Gehring-Gruppe zählt heute 340 Mitarbeiter, 240 arbeiten in Ostfildern, der Rest in Naumburg bei der Gehring Production. mb