Landwirte im Kreis nach dem Wegfall der Quotenregel unter Druck
Die Milch macht‘s nicht immer

Wachse oder stirb – Ein Satz, der in der Landwirtschaft seit Jahrzehnten wirtschaftliches Kalkül bestimmt. Seit dem ­Wegfall der Milchquote im April müssen vor allem Kleinst­betriebe mit Verlusten durch sinkende Preise rechnen. Im Landkreis Esslingen ist das die große Mehrheit.

Kirchheim. Milch kommt nicht nur aus dem Supermarkt, sondern immer häufiger auch aus Super-Ställen. Hochleistungskühe liegen dort auf gelenkschonenden Gummimatten statt im Heu, das Melkkarussell dreht sich 24 Stunden an 365 Tagen im Jahr, die Fütterung übernimmt ein Roboter und der Bauer nennt sich Manager. In Niedersachsen oder Brandenburg ist das längst Realität. Dabei ist es noch gar nicht lange her, als sich Europas Politiker den Kopf zerbrachen, wie sich Milchsee und Butterberg am wirksamsten eindämmen ließen. 1984 kam hierzulande die Mengenbeschränkung per Milchquote. Seit April dieses Jahres ist sie Geschichte.

Auch deshalb, weil sie weitgehend wirkungslos blieb. „Das ist ein globaler Markt, der sich so nicht steuern lässt", sagt Siegfried Nägele und gibt zu bedenken: „Es gab schon zu Quotenzeiten niedrigere Preise als jetzt." Der Landwirt aus Bissingen ist Vorsitzender des Kreisbauernverbands und kennt die Nöte seiner Mitglieder. Zwischen 1999 und 2010 hat sich die Zahl der landwirtschaftlichen Betriebe im Kreis fast halbiert. Von den derzeit noch etwa 650 Höfen sind knapp 100 Milchlieferanten. Der überwiegende Teil sind Kleinbetriebe, die nun mit weiter sinkenden Preisen rechnen müssen. „Der Wegfall der Quote hat schon viele zum Nachdenken gebracht", meint Nägele, der gemeinsam mit seinem Bruder einen Hof mit 60 Milchkühen bewirtschaftet. „Wer schon vorher ans Aufhören dachte, wird dies nun intensiver tun.“ Besonders solche Betriebe, die vor einem Generationswechsel stehen. Groß oder Klein ist für Nägele trotzdem nicht die entscheidende Frage. Kleinere Betriebe ohne Kreditbelastung hätten es oftmals leichter als solche, die viel Geld in die Hand nehmen und dabei viel riskieren. Wann der Punkt erreicht ist, dass man nicht mehr davon leben kann, ist eine Frage der Betriebsstruktur sprich: zusätzlicher Einnahmequellen. „Diese Struktur wird sich bei uns im Kreis weiter verändern“, sagt Nägele.

Rund 70 Prozent der Landwirte im Kreis Esslingen verdienen ihr Geld schon jetzt in anderen Berufen. So wie Siegfried Rau, der sich selbst als „Bauer aus Leidenschaft" bezeichnet. Der 51-Jährige unterhält einen von nur noch zwei Milchviehbetrieben in Notzingen. In dritter Generation und „weil es Freude macht“, wie er betont. Rau ist als Forstwirt bei der Stadt Kirchheim angestellt. Abends steht er mit seiner Frau im Stall und melkt das Vieh. Rund 45 000 Liter Milch liefern die acht Kühe. Zu fressen bekommen sie nur, was die eigenen Wiesen hergeben. Leben kann man davon nicht, obwohl 20 Hektar Ackerland, die Getreide und Erbsen liefern, ein paar zusätzliche Euros in die Kasse spülen. Seit dem Wegfall der Milchquote ist der Literpreis, den die Erzeuger von den Molkereien erhalten, von 35 auf 29 Cent gesunken. Ob die Quote allein Schuld daran hat, weiß keiner. Die Mechanismen des Markts sind schwer zu durchschauen. Das über Russland verhängte Wirtschafts-Embargo trifft auch die Milchwirtschaft. Für Rau bedeutet das: Am Monatsende sind seitdem rund 300 Euro weniger in der Kasse. Ans Aufhören hat er trotzdem noch nie einen Gedanken verschwendet, auch wenn er sagt: „Meine Arbeitszeit darf ich nicht rechnen. Das reicht nicht einmal zum Mindestlohn." Auch Wachstum war nie ein Thema für ihn. Schon deshalb, weil der Hof mitten im Ort liegt. „Bis jetzt zahlen wir nicht drauf“, sagt Siegfried Rau. „Mein Vater hat für die Landwirtschaft nie Schulden gemacht, und ich werde es auch nicht tun.“

Investieren, um zu leben, lautet dagegen die Devise von Hermann Holder. Der 45-Jährige hat gemeinsam mit seinem Bruder vor mehr als zwei Jahrzehnten den Hof mit 80 Tieren vom Vater übernommen. Im modernen Betrieb am Ortsrand von Neidlingen stehen heute 160 Milchkühe. Ein Paradebeispiel für den Strukturwandel in der landwirtschaftlichen Produktion: Vor vier Jahrzehnten noch gab es in Neidlingen 40 Milchbauern, die im Spitzenjahr 1978 rund 1,2 Millionen Liter Milch erzeugten. Ziemlich genau die Menge, die der Holdersche Betrieb heute ganz allein abwirft. Das verschafft dem Familienbetrieb eine Spitzenposition unter den Erzeugern im Landkreis, aber auch entsprechenden Investitionsdruck. Eineinhalb Millionen Euro flossen in den vergangenen zehn Jahren in moderne Stalltechnik. Um wirtschaftlich zu arbeiten, wurden in der Vergangenheit Quoten von anderen Betrieben, die dicht machten, zugekauft.

Seit dem Wegfall der Quote haben die Holders ihre Milchleistung um 20  Prozent gesteigert. Was das für die Preisentwicklung in den kommenden Jahren bedeutet, kann auch der Neidlinger Landwirt nicht vorhersagen. Nur so viel: „Eine Vergrößerung unseres Betriebs ist nicht mehr möglich, schon allein vom Platz her,“ sagt Hermann Holder. Nicht auszuschließen, dass er eines Tages der Letzte im Landkreis ist, der das Licht ausmacht.