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Die Rückkehr der Containerdörfer

Geflüchtete Im Landkreis werden bis Ende des Jahres so viele Menschen Zuflucht gefunden haben wie in den Rekordjahren 2015 und 2016 zusammen. Notlösungen werden wieder zur Regel.   Von Bernd Köble

Die gute Nachricht geht angesichts der zugespitzten Lage fast unter: Seit wenigen Wochen hat sich im Kreis Esslingen der Zustrom der Schutzsuchenden aus den Kriegsgebieten in der Ukraine deutlich verlangsamt. Im Oktober haben die zuständigen Stellen im Esslinger Landratsamt etwa 120 Neuankömmlinge registriert. Zum Vergleich: Zwischen April und Juni waren es jeden Monat bis zu 600. Ob das an der wachsenden Hoffnung liegt, der Krieg könnte angesichts des Rückzugs russischer Truppen aus umkämpftem Gebiet an einem Wendepunkt angelangt sein, weiß niemand. Eine Prognose für 2023? Unmöglich. Ein weiterer Grund, warum niemand an verantwortlicher Stelle Entwarnung geben möchte, ist der: Seit Oktober wächst die Zahl der Geflüchteten aus anderen Krisenregionen der Welt und weckt Erinnerungen an den Höhepunkt der Zuwanderungswelle vor sieben Jahren. Rein rechnerisch wird die Situation von damals bis Jahresende so gut wie erreicht
 

„Die Lage übersteigt in ihrer Dynamik die Situation vor sieben Jahren.
Landrat Heinz Eininger
 

sein. Dann werden seit dem russischen Überfall Ende Februar annähernd so viele Menschen hier im Landkreis Unterschlupf gefunden haben wie in den Jahren 2015 und 2016 zusammengerechnet. In Zahlen: mehr als 7 000 offiziell Registrierte. Im Moment sind es 6 200 allein aus der Ukraine.

Für den Landkreis und seine Kommunen heißt das: Was man überwunden zu haben glaubte, kehrt wieder zurück: Containerdörfer, Sport- und Gemeindehallen, die als letzter Puffer zum Nächtigen bereit gehalten werden. „Wir sind an der Belastungsgrenze. Unsere Kapazitäten sind ausgeschöpft,“ sagt Landrat Heinz Eininger. Mit Hochdruck arbeite man daran, auslaufende Mietverträge, wo immer es geht, zu verlängern. Knapp 1700 Plätze bis zum Jahresende, alleine für Menschen aus der Ukraine, hat der Kreis seit Februar bereitgestellt. Die meisten davon in Großunterkünften wie in Esslingen auf dem Roser-Areal, im ehemaligen Impfzentrum in der Zeppelinstraße oder wie seit Juni auf dem Nürtinger Hauber-Areal. Die Stadt Esslingen trägt kreisweit die Hauptlast. Dort sind im Stadtgebiet inzwischen fast die Hälfte aller Geflüchteter in der vorläufigen Unterbringung. Für die Kreisverwaltung bedeutet das: Man muss weiter Druck ausüben auf die Städte und Gemeinden, die in der zweiten Stufe, der Anschlussunterbringung, per Gesetz in der Pflicht stehen. Zwar ist es seit Februar gelungen, knapp einem Drittel der Menschen dort eine längerfristige Bleibe zu verschaffen. Allerdings warten in den Notunterkünften des Landkreises im Moment noch immer etwa tausend ukrainische Geflüchtete darauf, kommunalen Wohnraum zugewiesen zu bekommen. Wohnraum, der immer häufiger bedeutet: ein Bett im Container.

Manche Gemeinde, wie etwa Dettingen, hat ihr Jahressoll diesbezüglich erfüllt. Geschafft hat man das allerdings auch hier nur mithilfe von Wohncontainern. Von den 38 Plätzen in der Nähe des Hallenbads sind inzwischen 26 belegt. Insgesamt hat die Gemeinde 76 Personen ukrainischer Herkunft aufgenommen, teils privat oder in von der Gemeinde angemieteten Wohnungen. Viele darunter sind Familien mit Kindern. Hauptamtsleiterin Dorothee Schuster kann trotz beengter Verhältnisse von einem System berichten, dass offenbar gut funktioniert und dankend angenommen wird. „Der Zusammenerhalt und die gegenseitige Unterstützung unter den Ukrainern ist enorm,“ sagt sie. Wo Hilfe von außen benötigt wird, sind Ehrenamtliche des örtlichen AK Asyl zur Stelle, die Lebensmittel und Hygieneartikel aus Spendengeldern beschaffen oder Dolmetscherdienste organisieren.

Auch am Weilheimer Egelsberg sind gasbeheizte Container Teil der Lösung. Modulbauten, die die Stadt nach Abflauen der ersten Zuwanderungswelle vor Jahren vom Landkreis übernommen hat. Dort sind derzeit 30 Asylbewerber unterschiedlicher Herkunft untergebracht. 264 Geflüchtete wohnen dezentral über das ganze Stadtgebiet verteilt. „Wir stoßen an Grenzen,“ sagt Ordnungsamtsleiter Helmut Burkhardt. „Auch deshalb, weil die Menschen in vielerlei Hinsicht Betreuung benötigen.“ Vor allem Kitas, wo seit Jahren schon Fachkräfte und damit Plätze fehlen, droht vielerorts der Kollaps. Gleichzeitig werden rund 880 Kinder und Jugendliche, die mit ihren Familien auf der Flucht sind, zusätzlich an allgemeinbildenden Schulen im Kreis unterrichtet. In der Stadt Esslingen gibt es entsprechend lange Wartelisten.

In Kirchheim stammen inzwischen mehr als 90 Prozent der knapp 550 Schutzsuchenden, die in diesem Jahr aufgenommen wurden, aus der Ukraine. Container stehen hier noch keine, doch die Stadt ist vorbereitet. Für eine mögliche Beschaffung hat der Gemeinderat im Herbst sechs Millionen Euro im Haushalt losgeeist. Ein möglicher Standort, der geprüft wird, ist die Freifläche hinter dem Güterbahnhof. Gemeinsame Pläne in Abstimmung mit dem DRK gibt es auch für eine Belegung der Konrad-Widerholt-Halle. Noch werden alle diese Möglichkeiten nicht gebraucht. „Wir hoffen, dass wir das alles nur im äußersten Notfall in Anspruch nehmen müssen,“ meint Robert Berndt, der Sprecher der Stadt. 
 

Kritik an Verteilung wird lauter

Der Königsteiner Schlüssel, benannt nach der hessischen Stadt im Taunus, wo 1949 das Königsteiner Staatsabkommen unterzeichnet wurde, regelt seitdem die Beteiligung der einzelnen Bundesländer an gemeinsamen Finanzierungsaufgaben. Maßstab ist zu zwei Dritteln die Steuerkraft und zu einem Drittel die Bevölkerungszahl. Der Schlüssel wird auch bei der Verteilung von Asylbewerbern auf die einzelnen Länder und ihre Landkreise herangezogen.
Kritiker bemängeln, dass dadurch Regionen mit hoher Bevölkerungsdichte, wo es ohnehin schon an Wohnraum und Baugrund mangele, zusätzlich belastet würden. Im Esslinger Kreistag werden schon lange Forderungen laut, wonach sich die Verteilung auch an der Fläche orientieren müsse. „Der Königsteiner Schlüssel taugt nicht mehr als Instrument“, ist der Esslinger Landrat Heinz Eininger überzeugt.
Es gibt allerdings auch gute Gründe ​​​​​​​für​​​​​​​ die verstärkte Zuweisung in prosperierende Gegenden​​​​​​​. ​​​​​​​Dazu ​​​​​​​​​​​​​​gehören kurze ​​​​​​​Wege, eine dezentrale Verwaltung, ein engmaschiges Netz an Hilfsangeboten, ein funktionierender Nahverkehr oder eine lückenlose medizinische Versorgung. ​​​​​​​bk