Schlierbach. Von der erstmaligen Erwähnung Schlierbachs im „Liber decimationis“ im Jahr 1275 bis heute spannte Dr. Stefan Lang, Archivar des Landkreises Göppingen, seinen Vortrag über die Geschichte Schlierbachs und wusste Erstaunliches zu berichten. „Tatsächlich weiß man erst seit der Zeit nach dem 2. Weltkrieg, dass man überhaupt ein Jubiläum feiern kann.“ Denn das „Liber decimationis“, das „Zehntbuch“ des Bistums Konstanz aus dem Jahr 1275 wurde erst im Jahr 1865 ediert und veröffentlicht und fand erst nach dem 2. Weltkrieg breiteren Widerhall in der Forschung. „Vorher war das gar nicht im Bewusstsein“, so Lang. Ein gewisser Eberhard, Chorherr des Stifts Bad Boll, ist dort als Schlierbacher Pfarrherr erwähnt – und auch die jährlichen Einkünfte der Schlierbacher Pfarrei, die sich auf 30 Pfund Heller beliefen.
Im Laufe der Jahrhunderte wechselte Schlierbach viele Male den Besitzer. „Aber das alles zu erklären, das wieso, weshalb, warum: Da bekommen Sie einen Knoten in den Kopf. Stellen Sie es sich als Mischung aus Monopoly und Game of Thrones vor“, so der Historiker. Gesichert ist allerdings, dass die Schlierbacher im ausgehenden Mittelalter hauptsächlich vom Getreideanbau lebten. „Auch Wein wurde damals hier noch angebaut, wie wir der Beschreibung des Oberamts Göppingen von 1844 entnehmen können“, weiß Lang zu berichten. 1294 geht Schlierbach in den Besitz der Herzöge von Teck über, um schließlich ab dem Jahr 1485 den zunächst Grafen, dann Herzögen von Württemberg zu gehören. 1806 wird Schlierbach Teil des Königreichs Württemberg.
In den Jahren zwischen 1495 und 1501 wird die Kirche im spätgotischen Stil errichtet, im Zuge der Reformation wird der Ort 1535 evangelisch. Eine Karte des damaligen Amts Göppingen aus demselben Jahr zeigt die geografische Verortung Schlierbachs. Schlierbach hat damals rund 500 Einwohner – eine Zahl, die sich während des 30-jährigen Krieges zwischen 1618 und 1648 durch Hunger und Seuchen auf nur noch 150 Menschen verringern wird und im Laufe der nächsten Jahrhunderte nur langsam wieder ansteigt.
Einen letzten Blick auf Schlierbach vor der Industrialisierung bietet die bereits erwähnte Beschreibung des Oberamts Göppingen von 1844. Schlierbach hat damals 1838 Einwohner, von denen vier katholischen Glaubens waren. Die Schlierbacher seien „fleißig und betriebsam“, steht dort geschrieben, betreiben Landwirtschaft, Viehzucht, spinnen Flachs und weben Stoffe. Auch eine Brauerei nebst drei Gasthäusern findet sich am Ort. „Es war eine harte Zeit, denn Württemberg zählte damals zu den ärmsten Landstrichen in Europa“, berichtet Lang. Tatsächlich verlassen viele Menschen Schlierbach, ziehen in die Städte oder wandern aus, die Einwohnerzahl sinkt bis zum Jahr 1900 auf 1303 Einwohner ab – ein Trend, der sich erst nach dem zweiten Weltkrieg mit dem Zuzug von Kriegsflüchtlingen umkehrt: 1961 ist die Einwohnerzahl auf 2066 angewachsen, heute leben knapp 4000 Menschen in Schlierbach.
Ab dem Beginn des 20. Jahrhunderts finden sich auch die ersten fotografischen Zeugnisse, die über die folgenden Jahrzehnte die Entwicklung des Orts von einer bäuerlich geprägten Gemeinde zum heute bekannten modernen Ortsbild mit dem großen Gewerbegebiet zeigen. Bedauerlich aus der Sicht des Historikers ist der Verlust des Gemeindearchivs, das mitsamt dem Rathaus beim Einmarsch der Amerikaner im Frühjahr 1945 ein Raub der Flammen wurde. Dennoch: „Aus Schlierbach ist eine prosperierende Gemeinde geworden“, so das Schlussfazit des Kreisarchivars.Volkmar Schreier

