Weilheim · Lenningen · Umland
Die verlassene Papierfabrik Scheufelen: Hier steht die Zeit still

Lost Places Die Berliner Firma „go2know“ bietet Touren über das größtenteils verwaiste Firmengelände der Lenninger Papierfabrik Scheufelen an. Ein Rundgang mit Thomas Harriefeld bietet ganz besondere Eindrücke. Von Kai Müller

Die Tafel in der einstigen Papierfabrik Scheufelen zeigt noch immer die gleichen vier Ziffern 2502, und das seit einigen Jahren. Es scheint ein 25. Februar gewesen zu sein, als sich die Werkstore endgültig schlossen – nach zuvor mehreren Insolvenzen. Die Nachfolgegesellschaft Silphie Paper stellte im August 2021 den Betrieb ein. Wer heute über das Fabrikgelände läuft, der hat immer wieder das Gefühl, dass die Zeit an diesem Tag stehen geblieben ist. Auf Schreibtischen stehen noch Telefon, Aktenordner oder ein Kaffeebecher. In den Spinden im einstigen Duschraum warten Schuhe oder Kleidungsstücke auf ihre einstigen Besitzer. Dort, wo einst die Techniker saßen und Dinge repariert haben, liegen Schlüssel auf dem Tisch, ein Canned-Heat-Konzertplakat aus dem Jahr 2015 hängt hinter der Tür. Es wirkt fast so, als hätten die einstigen Mitarbeiter nur kurz ihre Büros im Verwaltungstrakt verlassen, um nach einer Mittagspause wieder dorthin zurückzukehren. In der einstigen Marketing-Abteilung hält ein verwelkter Ficus die Stellung. Überall liegen kleine Pappschachteln herum, die als Parfümverpackungen gedacht waren.

Thomas Harriefeld mit einer Rohrpost. Foto: Kai Müller

Der neue Hüter der Firmengeschichte

Dort, wo sich einst die Chefs zu ihren Sitzungen trafen, liegen Dokumente, die Einblicke in die Firmengeschichte geben. Thomas Harriefeld hat sie gesichtet und geordnet. Er fühlt sich schon ein wenig als Hüter einer besonderen Firmengeschichte. Ganz nüchtern betrachtet ist er der Standortverantwortliche. Vor einem Jahr hatte die Firma „go2know“ einen Ansprechpartner vor Ort gesucht. Das Berliner Unternehmen bietet Touren an verborgene Orte, sogenannte Lost Places, in der Hauptstadt und deren Umgebung an. In Berlin sitzt aber auch die Projektentwicklerin, die DLE Land Development GmbH. Sie hat 2022 das insgesamt 250.000 Quadratmeter große Areal in Oberlenningen erworben. Der Weg zur Kooperation der beiden Berliner Firmen, bis das Gelände in ein Wohn- und Gewerbequartier umgewandelt wird, war da nicht weit.

 

Wir haben Gäste aus Österreich, Schweiz, Niederlande, aber auch aus Nordrhein-Westfalen oder Ostdeutschland.
Thomas Harriefeld

Die Touren durch die alte Papierfabrik Scheufelen sind gefragt. Es gibt viele, die auch weitere Wege auf sich nehmen, um einige Stunden auf dem Areal zu verbringen. „Wir haben Gäste aus Österreich, Schweiz, Niederlande, aber auch aus Nordrhein-Westfalen oder Ostdeutschland“, sagt Harriefeld. Wer über das Gelände spazieren will, der wird genau eingewiesen.

Ein verlassenes Büro. Foto Kai Müller

Thomas Harriefeld hat mit vielen ehemaligen Beschäftigten gesprochen. Auch der letzte Chef, Ulrich Scheufelen, hat ihn empfangen. 3000 Mitarbeiter zählte das Unternehmen einst, das weltweit Geschäftskontakte hatte und 1967 gar als erste deutsche Firma einen Auftrag von der NASA erhielt. Scheufelen entwickelte und produzierte ein nicht brennbares Papier für die Apollo-12-Mission. Die Firma stellte 1892 erstmals „Kunstdruckpapier“ her und hat diesen Namen quasi salonfähig gemacht.

Eine Firma, die immer
auf Innovationen setzte

Auch sonst glänzte das Unternehmen, das von Carl Scheufelen gegründet wurde, mit vielen Innovationen. So machte man sich beispielsweise Gedanken, wie mehr Licht in die Gebäude kommt und größere Fenster hergestellt werden können. Auch Aufzüge, die bis zu 16 Tonnen transportierten, wurden früh eingebaut. „Das hatte damals niemand“, sagt Harriefeld. Die Anmutung der Gebäude sei den Firmenchefs wichtig gewesen. Die Fabrik verfügte auch über eine Rohrpostanlage, durch die Nachrichten blitzschnell verschickt werden konnten. Im Jahr 1888 gründete Carl Scheufelen eine Betriebskrankenkasse. 1907 wurden Bäder und eine Kantine für die Mitarbeiter gebaut und 1938 folgte die Scheufelen-Pensionskasse.

Foto: Carsten Riedl

Von dem Gründer Carl Scheufelen wurde aber nicht nur der Grundstein für die Papierfabrik gelegt, sondern ihm ist es auch zu verdanken, dass die Eisenbahnlinie von Kirchheim nach Oberlenningen Wirklichkeit und 1899 von König Wilhelm II. von Württemberg eröffnet wurde. Ohne den Unternehmer hätte es die Teckbahn wohl nie gegeben.

In den endlosen Tunneln finden sich viele stumme Zeitzeugen

Es sind diese und andere Episoden, die ermessen lassen, wie besonders die Geschichte der Papierfabrik ist. So stehen in den Kellern riesige Maschinen, die früher dazu benutzt wurden, aus kleinen Holzstämmen den Grundstoff für die Papiergewinnung herzustellen. In den Räumen daneben befinden sich stillstehende Turbinen. Die weitläufigen Hallen, die gigantischen Silos, und dort, wo heute riesige Löcher klaffen, standen früher Tanks oder Papiermaschinen. „Viele Maschinen wurden schon abgebaut und verkauft“, sagt Harriefeld. Der einzelne Besucher wirkt in dieser überdimensionalen Fabrikruine ziemlich klein und manchmal auch ein wenig verloren. „Jetzt kommt mein persönlicher Höhepunkt“, sagt Harriefeld beim Rundgang und steuert auf den Steinmüller-Kessel aus dem Jahr 1950 zu. „Er ist 36 Meter hoch“, erzählt er und steigt die Leiter nach oben.

Es ist ein geschichtsträchtiger Ort, an dem es viel zu entdecken gibt – noch. Doch die Tage der Papierfabrik Scheufelen sind gezählt. Der Rückbau der Anlagen ist in vollem Gang. Einige Gebäude sind denkmalgeschützt und werden erhalten bleiben. Ein neuer Ortsteil soll auf dem Gelände entstehen. Einige wenige kleine Start-up-Unternehmen sind schon jetzt dort beheimatet. Doch der Großteil der Gebäude erzählt die Geschichte des Aufstiegs und Niedergangs. „Es ist ein großer Abenteuerspielplatz“, sagt Harriefeld. Für ihn selbst ist es zugleich ein ganz besonderer Arbeitsplatz.