Zwischen Neckar und Alb
Die Walcker-Orgel: Leises Hauchen und donnerndes Fortissimo

Musik Der Esslinger Bezirkskantor Uwe Schüssler erzählt vom Üben in eiskalten Kirchen, von der Einsamkeit am Spieltisch und von seiner Faszination für die Königin der Instrumente. Von Gaby Weiß

Die Orgel hat das größte Tonspektrum aller Instrumente, bringt die tiefsten und höchsten Töne hervor, vom leisen Hauchen bis zum donnernden Fortissimo. Wegen ihres oft prächtigen Äußeren und ihres ebenso betörenden wie gewaltigen Klanges wird sie häufig als die Königin der Instrumente bezeichnet. Sie ist ein Meisterwerk der Feinmechanik und des Instrumentenbaus, und sie verbindet Kunst und Technik virtuos. Als Kirchenbesucher hat man selten die Möglichkeit, dieses Instrument näher anzuschauen oder gar dem Organisten beim Spielen über die Schulter zu gucken. Uwe Schüssler, Kirchenmusikdirektor, Bezirkskantor und Organist an der Esslinger Stadtkirche St. Dionys, gibt Einblick in seine Arbeit am Spieltisch.

In St. Dionys sitzt der Organist auf der westlichen Empore gegenüber dem Altar, weitab vom Publikum. Für Uwe Schüssler ist das trotzdem „ein wunderbarer Arbeitsplatz mit einem traumhaft schönen Blick“. Einsam fühlt er sich dort nicht: „Der Abstand sorgt für die notwendige Ruhe und Konzentration.“ Er weiß, dass Kollegen ihr Spiel bei Orgelkonzerten schon mal auf eine Leinwand in den Kirchenraum übertragen lassen: „Dann kann das Publikum dem Organisten zwar auf die Hände schauen, aber vielleicht lenkt das auch ab. Man hört anders, wenn man sich ganz auf die Klänge konzentriert.“

Der Orgelspieler in der Stadtkirche sitzt nah an der Walcker-Orgel mit ihren 91 Registern und rund 6550 Pfeifen, die sie zur zweitgrößten Orgel Württembergs machen: „Der Organist hört die Orgel direkter, unmittelbarer und ein bisschen lauter als die Kirchenbesucher. Die längste Pfeife ist neun Meter lang, sie ergibt einen so tiefen Ton, den man kaum hört, dessen Vibration man aber unmittelbar im Körper spürt“, weiß Schüssler. Die Stadtkirche biete dank ihrer Holzdecke eine sehr gute Akustik mit wenig Nachhall, weshalb auch die leisen Töne überall gut wahrzunehmen seien: „Der Kirchenraum ist der Resonanzkörper des Instruments. Es ist die Kunst des Orgelbaus, die Orgel für den Raum zu konzipieren.“ Ein Organist muss, so Schüssler, Raum und Akustik mitdenken: „Die Töne der Orgel klingen nach. Ich kann ein Werk oft nicht genau so spielen, wie es auf dem Notenblatt steht. Ich muss immer bedenken, dass der Klang noch auf dem Weg ist. Und wenn ich allzu legato, also gebunden, spiele, kann es passieren, dass die Klänge ineinander verschwimmen.“

Ein Organist dürfe, so Schüssler, während eines Gottesdienstes „nicht einfach sein Ding spielen. Er führt und geleitet die Gemeinde durch sein Spiel.“ Er selbst singt an der Orgel innerlich mit: „Dann habe ich ein Gefühl für das Tempo, dann phrasiere ich richtig. Wenn ich zum Beispiel zu langsam spiele, kriegt man eine Choralzeile nicht auf einen Atemzug gesungen.“

Uwe Schüssler weiß, dass die Stadtkirchen-Orgel nicht sein Eigentum ist: „Es ist ein großes Privileg, über einen bestimmten Zeitraum in der Kirche an diesem Instrument wirken zu dürfen.“ Haben andere Musiker auf dem Instrument gespielt, merkt Schüssler das meist an Äußerlichkeiten: Da ist dann die Orgelbank in ihrer Höhe oder Position verändert, oder es sind andere Registrierungen programmiert. Dabei kann ihn diese Orgel, die ein überaus komplexes Instrument aus Metall, Holz und Elektrik ist, auch nach vielen Jahren überraschen: „Jedes der 91 Register lässt sich mit jedem kombinieren, das ergibt eine riesige Palette von Klangfarben. Wenn ein anderer Organist ein Konzert spielt, verblüfft mich das oft. Manche kommen in der klanglichen Komposition zu ganz besonderen Erlebnissen. Das wird nie langweilig.“

Obwohl Uwe Schüssler schon zur berühmten Buchholz-Orgel nach Kronstadt und zur Cavaillé-Coll-Orgel in der Pariser Kirche Notre Dame gereist ist, weiß er die Qualität der Esslinger Orgeln zu schätzen: „Jede Orgel ist ein Unikat mit individuellem Klang. Wir haben mit der Walcker-Orgel in der Stadtkirche etwas ganz Besonderes. Die Gruol-Orgel in der Michaelskirche in Berkheim ist klanglich wunderschön, und auch die Orgel in der Franziskanerkirche hat einen sehr schönen Klang.“

Wenn Uwe Schüssler tagsüber übt, hört er jedes Gespräch zwischen Besuchern und jeden Vortrag bei Führungen, weshalb er meist lieber in Ruhe abends probt, wenn die Kirche geschlossen ist. Kirchen-Organisten sollten sich immer warm anziehen, denn in Gotteshäusern ist es in der Regel kalt. Obwohl in der Stadtkirche eine Infrarotwand im Rücken des Organisten eine wohltuende Wärme abstrahlt und über der Tastatur ein Heizstrahler eingerichtet ist, weiß Uwe Schüssler: „Wenn man drei Stunden in der Kirche spielt, ist man hinterher wirklich durchgefroren.“ Viele Kollegen schaffen sich digitale Orgeln an, mit denen sie zuhause im Warmen üben können. Die Elektronik biete spannende Möglichkeiten, um analoge Orgeln zum Beispiel mit Blick auf zeitgenössische Musik zu ergänzen, betont Uwe Schüssler: „Das hat seine Berechtigung, aber das hat auch seine Grenzen. Denn: Einen Sonnenaufgang erlebe ich auch lieber am Strand, als dass ich ihn mir im Film anschaue. Das Echte, Wahrhaftige, Authentische wird man auch bei der Orgel nie ersetzen können.“

 

Der Musiker und sein Instrument

Der Organist: Uwe Schüssler studierte an der Hochschule für Kirchen­musik in Heidelberg, und er war zunächst als Kirchenmusiker an der Christuskirche in Mannheim und als Assis­tent des Landeskantors tätig. Ab 1987 wirkte er für zwei Jahre als Kantor und Organist in Hamburg, seit 1989 ist er Bezirkskantor an der evangelischen Stadtkirche St. Dionys in Esslingen. 2004 wurde er zum Kirchenmusikdirektor ernannt. Er leitet die Kantorei Esslingen der Stadtkirche und unterrichtet Schüler an der Orgel. Das Orgelspiel fasziniert ihn: „Ich brauche dafür den ganzen Körper. Ich trete in einen Dialog mit dem Raum. Es gibt eine unendliche Fülle an klanglichen Möglichkeiten. Und die Orgel hat in Verbindung mit dem Kirchenraum etwas Erhabenes, eine spirituelle Dimension und eine Tiefe, die die Seele berührt.“

Die Walcker-Orgel: Die 1754 vollendete Orgel in der Esslinger Stadtkirche St. Dionys wurde 1904 durch die Ludwigsburger Orgelbaufirma Walcker auf fast vierfache Größe erweitert und komplett modernisiert. Sie verfügt über rund 6550 Pfeifen, 91 Register und ein Fernwerk, verbunden mit einer Schallöffnung in der Kirchendecke, das für besondere Klangeffekte genutzt werden kann. 1951 wurde der elektro-pneumatische Umbau der Orgel vollendet. Das Instrument wird einmal im Jahr professionell gewartet und gestimmt. gw