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Die Wirtin mit dem Supergedächtnis

Leistung Savvatou Kontopoulou muss sich keine Notizen machen. Die zahlreichen
Bestellungen ihrer Gäste merkt sich die Plochinger Wirtin einfach so. Von Karin Ait Atmane

Einen Notizblock oder ein digitales Gerät? Darauf verzichtet Savvatou Kontopoulou, die Wirtin des Albblick auf dem Plochinger Stumpenhof. Sie schaut und hört konzentriert hin und hat die Bestellungen dann alle im Kopf. Die Gäste haben ihr schon oft vorgeschlagen, dass sie doch mal zu „Wetten, dass …?“ gehen soll; ernsthaft erwogen hat sie es nie. „Das wäre nichts für mich, zu aufregend“, sagt sie, die auch beim Pressegespräch ein bisschen nervös ist. Beim Aufnehmen von Bestellungen sei sie dagegen „ganz gechillt“, zumindest im Normalfall.

Als im vergangenen Sommer einmal der Biergarten wie auch die Gaststube komplett besetzt waren und neben ihr nur eine weitere Mitarbeiterin im Service anwesend war, da hatte sie schon Respekt. Doch dann hat sie tief durchgeatmet, einfach losgelegt und die ersten zwölf Tische am Stück aufgenommen – ohne Probleme. Die Autorin dieses Textes konnte selbst einmal mitverfolgen, wie die 48-Jährige rund 25 Bestellungen einer Gruppe im Nebenzimmer auf einen Rutsch abgefragt hat. Alle wurden anschließend korrekt serviert.

 

Ich muss mir die Personen genau anschauen, dann verknüpft sich die Stimme mit dem Gesicht.
Savvatou Kontopoulou
Die Wirtin des Plochinger Albblickes kann sich jede Bestellung merken, ohne sie zu notieren.

Aber wie kann das funktionieren? Savvatou Kontopoulou hat schon mit 15 Jahren, damals noch in Griechenland, als Bedienung gearbeitet. Mit einer Unterbrechung ging’s dann später in Deutschland weiter, wo sie mit ihrem Mann ein Restaurant führt. Mittlerweile kommt sie auf 28 Jahre im Service, immer ohne Notizblock. Sie sieht in dieser Fähigkeit „ein Geschenk“, vielleicht auch ein Erbstück ihres Vaters, der ein ähnliches Talent hatte. Und sie mag Menschen.

Sie müsse sich die Personen ganz genau anschauen, sagt sie, dann sei in ihrem Kopf das Bild des Gesichts mit der Stimme der Person verknüpft. Wenn sie dann das Essen bringe, höre sie wie vom Tonband die Bestellung noch einmal. Dazwischen hat sie alles korrekt in die Kasse eingetippt und an die Küche weitergegeben. Dabei helfe ihr das Gesamtbild des Tisches, das sie sich merkt. Eine bestimmte Technik wendet sie dabei zumindest nicht bewusst an.

Die Gäste sind perplex

Die Leute sollten möglichst nicht die Plätze tauschen, sagt sie. Aber ansonsten bringt die Wirtin wenig aus dem Konzept, auch nicht Zwischenfragen oder Gäste, die extra kompliziert mit Sonderwünschen bestellen. Manche legen es drauf an, dass sie einen Fehler macht – und seien dann ziemlich perplex, wenn das nicht passiert, lacht Savvatou Kontaopoulou. Sie hat ihren Spaß dabei, die Gäste auch.

Professor ist skeptisch

Die 48-Jährige selbst nennt ihre Gabe ein „fotografisches Gedächtnis“. Gibt es das wirklich? Dr. Edgar Erdfelder, Professor der Psychologie an der Universität Mannheim mit einem Schwerpunkt auf Kognitiver Psychologie, ist skeptisch. Nicht, was die Fähigkeiten der Plochingerin angeht, sondern generell gegenüber dem Begriff „fotografisches“ oder „eidetisches“ Gedächtnis, wie es in der Fachsprache heißt. Denn der legt nahe, dass Bilder, Muster oder Szenen wie eine Kopie abgespeichert würden. Es gibt diverse Geschichten und Anekdoten über solche spektakulären Gedächtnisleistungen. Allerdings seien das allesamt keine wissenschaftlich aufgebauten Versuche gewesen, sagt Erdfelder, meist seien sie noch nicht mal nach wissenschaftlichen Kriterien dokumentiert worden. Die Gegenbeispiele, die er kennt, dagegen schon: Er schildert einen Versuch mit Schachspielern, die in Sekunden die Aufstellung auf einem Schachbrett abspeicherten und wiedergeben konnten. Wenn allerdings nicht andere Schachkundige, sondern Kinder die Figuren verteilten, gelang ihnen das nicht besser als anderen Menschen. Woraus der Psychologe schließt: „Es ist offenbar nicht ein Foto, sondern ein tieferes Verständnis, was hier wirkt.“ Mit den Aufstellungen der Kollegen konnten die Schachprofis etwas anfangen, mit denen der Kinder nicht.

Erdfelder spricht deshalb lieber von „bereichsspezifischer Expertise“ bei einzelnen Menschen: ein außergewöhnlich gutes Gedächtnis, bezogen „auf einen bestimmten Bereich, auf den die Leute spezialisiert und langjährig trainiert sind“. Die betreffenden Personen seien dann in der Lage, die Information im Gehirn besonders effizient zu organisieren. „Das sind wirklich seltene Fälle“, sagt Erdfelder, weil der Mensch zu Bequemlichkeit neige und folglich gern Hilfsmittel in Anspruch nehme, auch zur Entlastung seines Gedächtnisses. Dann kommt es nicht zum entsprechenden Training.

Interessant für die Wissenschaft

Was Savvatou Kontopoulou erzählt, findet Edgar Erdfelder spannend, vor allem die Verknüpfung mit der Stimmwahrnehmung. Die würde er vielleicht näher untersuchen, wenn er nicht seit kurzem Seniorprofessor wäre, also zwar noch an der Hochschule, aber eigentlich schon im Ruhestand. Aber wer weiß – vielleicht bekommt die Albblick-Wirtin ja doch irgendwann wissenschaftlichen Besuch. Wenn sie selbst nach einer Erklärung für ihr Geheimnis sucht, fällt ihr vor allem eines ein: „Der Job macht mir zu 100 Prozent Spaß“.

 

Das menschliche Gehirn und seine Merkfähigkeit

Ultrakurzzeitgedächtnis: Eigentlich hat jeder Mensch ein „fotografisches Gedächtnis“. Dieses hält allerdings nur Zehntelsekunden vor. So lange bleibt ein aufgenommener visueller Eindruck, wie ein Schnappschuss, im Gehirn erhalten. Dann filtert das Gehirn die relevante Information aus und verwirft das, was nicht wichtig ist.

Kurzzeit- oder Arbeitsgedächtnis: Im Kurzzeitgedächtnis hält man Informationsinhalte für kurze Zeit durch Memorieren aktiv und bewusst fest, zum Beispiel eine Telefonnummer, um sie gleich danach zu wählen. Oft geht es dabei nur um Sekunden, danach werden die Inhalte entweder ins Langzeitgedächtnis übernommen oder „gelöscht“.

Langzeitgedächtnis: Zum Langzeitgedächtnis gehört alles, was wir nicht permanent im Bewusstsein haben – also auch die vor fünf Minuten aufgenommene Bestellung eines Gastes. Das Langzeitgedächtnis ist zudem eine wichtige Schlüsselfunktion zum richtigen und eigenständigen Ausführen der Alltagsaufgaben. ait