Wenn man die Werkstatt von Geigenbaumeister Eberhard Thiessen in der Webergasse 22 in der Esslinger Altstadt betritt, ist es ein bisschen so, als reise man in der Zeit zurück zu den frühen Meistern dieses alten Handwerks. Unzählige Geigen, Celli und Kontrabässe hängen und stehen in den verwinkelten, niedrigen Räumen des im Jahr 1457 erbauten Bürgerhauses an der Ecke zur Landolinsgasse, das früher eine Bäckerei war und heute auf der Liste der Esslinger Kulturdenkmäler aufgeführt wird. „Wo um 1800 der Ofen stand, sind heute die Geigen“, sagt Thiessen.
Eine Maschine kann das Holz nicht lesen. Das ist alles präzise Handarbeit.
Geigenbaumeister Eberhard Thiessen
Am Fenster hat er seinen Arbeitsplatz mit Blick nach draußen auf die Passanten eingerichtet, von denen immer mal wieder der eine oder andere im Vorbeigehen interessiert einen Blick hinein in die Werkstatt wirft. An den Wänden rund um den Arbeitstisch des Geigenbaumeisters hängen seine Werkzeuge für den Bau und vor allem auch die Reparatur und Restauration der Instrumente. Zu den Hauptwerkzeugen zählen dabei etwa der Hobel und die rasiermesserscharfen Ziehklingen oder auch Zwingen, um das Holz beim Leimen zusammenzuhalten. Die Ziehklingen sind ein uraltes, aber bis heute nützliches und effektives Werkzeug zum feinen Abtragen von Spänen, zum Entfernen alter Lackschichten und Polituren und zum Säubern verschmutzter Oberflächen. „Ein Schleifpapier dagegen würde auf der Oberfläche aufliegen und das Abgetragene oder auch den Staub ins Holz hineinreiben“, erklärt der Geigenbaumeister. „Ich würde gerne mehr Instrumente selber bauen, dafür fehlt aber leider die Zeit. Die Reparaturen sind ganz klar Brot und Butter, es laufen immer mehrere Projekte parallel“, ergänzt Eberhard Thiessen. Sicher entwickle man bei der Arbeit gewisse Routinen, „trotzdem ist jedes Instrument individuell, ebenso wie die Bedürfnisse der Kunden“.
Vom Schüler bis zum Profimusiker
Die kommen aus dem ganzen Kreisgebiet und Stuttgart in die Esslinger Webergasse. „Viele von ihnen sind aus Esslingen direkt oder Kirchheim und den umliegenden Orten, darunter einige Musikschullehrkräfte“, sagt Eberhard Thiessen. Grundsätzlich reiche die Kundschaft vom jungen – oder erwachsenen – Geigenschüler, der beim Geigenbaumeister aus zahlreichen Leihinstrumenten sämtlicher Größen das Passende auswählen und für 18 Euro im Monat nutzen kann, bis hin zum Profimusiker der Stuttgarter Orchester. „Die Laienmusikerdichte ist in Süddeutschland generell mit am höchsten. Es gibt viele, die im klassischen Bereich auf hohem Niveau spielen und entsprechend hoch ist der Bedarf an Instrumenten“, weiß Thiessen aus eigener Erfahrung, beruflich wie privat.

Er selbst spielt seit seinem sechsten Lebensjahr Geige und gibt in seiner Werkstatt spontan mit einem Werk von Schubert eine kurze, aber beeindruckende Kostprobe seines musischen Könnens. In seiner Freizeit spielt der gebürtige Plochinger bei der Süddeutschen Philharmonie Esslingen und ist zudem Mitglied eines privaten Streichquartetts. Die Ausbildung zum Geigenbaumeister absolvierte Eberhard Thiessen zunächst an der Staatlichen Musikinstrumentenbauschule in Mittenwald, einer kleinen Marktgemeinde im oberbayerischen Landkreis Garmisch-Partenkirchen, etwa 100 Kilometer von München entfernt. „Im Osten Deutschlands gibt es noch eine weitere Schule. Damals war es nicht leicht, die Aufnahmeprüfung zu bestehen, denn es gab viele Bewerber für Mittenwald. Im zweiten Anlauf hat es dann geklappt und ich habe dort eine dreieinhalbjährige Lehre im Geigenbau gemacht bis zur Gesellenprüfung. Anschließend bin ich zu einem Geigenbaumeister nach Stuttgart gegangen und habe 1999 meine Meisterprüfung abgeschlossen“, erzählt Eberhard Thiessen von den Anfängen seines Berufslebens. Der Meisterbrief hat heute einen Platz an den Wänden der Werkstatt in der historischen Altstadt bekommen, in der Thiessen seit 2008 sein traditionsreiches Handwerk ausübt, dessen Ursprünge wie die des Gebäudes viele Jahrhunderte zurückgeht. Davor hatte er seine Werkstatt in der Sirnauer Straße in Esslingen.
Baupläne aus dem 17. Jahrhundert
Die Restauration der teils sehr alten Instrumente ist eine Handwerkskunst, die viel Geduld ob der detailreichen und sehr präzisen Arbeitsschritte und ein umfassendes Wissen um die alten Techniken voraussetzt. „Beim Bau und auch der Reparatur orientiert man sich an den alten Meistern und deren Bauplänen“, erklärt Eberhard Thiessen und breitet den Nachdruck eines Cello-Bauplans auf dem Tisch aus, der im Original aus dem Jahr 1693 stammt und dem venezianischen Geigenbauer Matteo Goffriller (1659 – 1742) gehörte, der für die herausragende Qualität seiner selbst gebauten Celli berühmt wurde. „Die alten Pläne muss man lesen können, sie werden noch heute beim Geigenbau angewendet“, so Thiessen.

Wie ein Instrument letztlich klingt, verdankt es vielen verschiedenen Faktoren. Das fängt bereits mit dem Standort des Baums an, dessen Holz beim Bau verwendet wird. „Wenn er über 800 Höhenmeter hoch wächst, ist das Holz besonders gut geeignet. Für den Instrumenten-Boden, also die Rückseite nimmt man Ahorn, das ist schwerer, für den Deckel leichteres, aber sehr stabiles Fichtenholz“, erklärt Eberhard Thiessen. Auch die Zeit des Fällens sei für den späteren Klang relevant: „Wenn der Baum im Sommer gefällt wird, enthält er mehr Wasser, im Winter dagegen stehen die Poren des Holzes enger beieinander und nehmen dadurch wenig Feuchtigkeit auf. Dadurch arbeitet das Holz nicht so stark, was gut ist.“ Würde das Holz zu viel arbeiten, was gerade bei jenem mit besonders vielen Jahresringen der Fall ist, trete eine entsprechende Spannung auf, die letztlich für Risse im Holz sorgen kann.
Auch der Lack dient nicht nur als Schutz für die Oberflächen oder der Optik, sondern wirkt sich ebenso auf die Akustik des Instruments aus. „Man kann das mit jener in einem Wohnzimmer im Vergleich zu einem Badezimmer vergleichen“, so Thiessen. „Im Wohnzimmer sind die Oberflächen der Wände rau, das bedeutet, dass sie Schall schlucken. Im Bad dagegen, mit seinen glatten Oberflächen, ist die Akustik deutlich besser.“ Dazu macht’s die richtige Rezeptur: Eberhard Thiessen stellt seinen Lack selbst aus Naturharzen her wie etwa dem roten Baumharz des Drachenblutbaums oder Benzoe, das Harz des tropischen, immergrünen Siam-Benzoe-Baumes. „Einer der Hauptbestandteile ist zudem Schellack. Den Mix aus verschiedenen Zutaten löse ich dann in Brennspiritus auf. Der Alkohol verdunstet und man erhält eine perfekt glatte Oberfläche.“

Um dem fertigen Streichinstrument schließlich einen Klang zu entlocken, braucht es zudem den passend gefertigten Bogen. „Dafür werden Rosshaare verwendet. Jene der mongolischen Pferde sind am besten geeignet, da sie sehr gleichmäßig und robust sind. Damit ein Ton entsteht, muss aber erst Kolophonium aufgetragen werden“, nennt Thiessen ein wichtiges Detail. Kolophonium wird auch als Bogenharz oder Geigenharz bezeichnet. Die Rosshaare der Bögen von Streichinstrumenten werden regelmäßig mit einem Harzstück eingerieben und bekommen so einen Haftgleiteffekt. Weiter geht es in Sachen Klang mit den Saiten: Hier ist deren Länge und Dicke entscheidend. Je dicker die Saite, desto tiefer der Ton. „Früher wurden Saiten aus Tierdarm, zum Beispiel vom Schaf, hergestellt. Die reagieren aber empfindlicher auf Feuchtigkeit und Temperatur als modernere. Die halten daher besser den richtigen Ton“, erklärt Eberhard Thiessen, „ich spiele zum Beispiel metallumwickelte Darmsaiten.“

Während das Musizieren in Zeiten des Barocks noch etwas Elitäres und die Qualität der Instrumente etwas Besonders gewesen sei und nichts für die großen Konzertsäle, habe es zwischen etwa 1850 und 1920 eine wahre Massenproduktion an Instrumenten gegeben. Auch in Mittenwald, dem Ausbildungsort von Eberhard Thiessen: „Dass es da hieß ‚Masse statt Klasse‘, merkt man, wenn man Instrumente aus diesen Produktionen zur Reparatur bekommt.“
An seinem Beruf gefalle ihm die präzise Handarbeit nach den alten Vorbildern: „Eine Maschine kann das Holz nicht lesen.“ Es komme bei jedem einzelnen Instrument auf die Details an. „Allein für die Schwingung und den Klang ist jedes Mikrogramm Holz und dessen Verarbeitung entscheidend“, weiß Eberhard Thiessen. „Bei der Bearbeitung jedes Instruments lernt man wieder etwas Neues dazu.“