Schau mal, da warst du noch blond“, sagt Kerstin von Locquenghien und blickt liebevoll auf das weiß gewordene Haar ihrer Oma Margarete. Diese sitzt im bequem gepolsterten Sessel. Dunkle, edle Holzmöbel umgeben Margarete von Locquenghien. Sie durchbrechen die typischen Pflegeheimmöbel aus hellem Holz. Auf einer Kommode thront eine kleine, silberne Schildkröte, daneben ist eine Geburtstagskarte. Eine große 70 ist darauf abgebildet. Margarete von Locquenghien kann diese Karte nicht gewidmet sein, denn die Bewohnerin der Dettinger Heimstiftung „Haus an der Teck“ feiert am Montag, 30. Oktober, ihren 100. Geburtstag.
Am 30. Oktober 1923 wurde Margarete von Locquenghien in Duisburg geboren. „Meine Kindheit war normal, die Eltern waren immer für mich da“, erinnert sich Margarete von Locquenghien an ihre ersten Jahre. Der Vater war fußballbegeistert. Jeden Sonntag ging die Familie gemeinsam zu Fußballspielen. „Das habe ich manchmal moniert“, sagt die 99-Jährige und lächelt leicht.
So rosig sollte ihr Leben jedoch nicht weitergehen. Mit der Machtergreifung Hitlers legte sich ein Schatten über Margarete von Locquenghiens Kindheit. Bis sie ungefähr 16 Jahre alt war, verweigerte sie sich der Hitler-Jugend. „Doch dann haben sie mich in die Pflicht-HJ gesteckt“, berichtet sie. Als der Krieg über Duisburg hereinbrach, war jedoch jede Hoffnung auf Alltag dahin. Immer wieder mussten Margarete von Locquenghien und ihre Klassenkameradinnen das Gebäude für den Unterricht wechseln. Buben und Mädchen wurden damals noch getrennt unterrichtet, doch am Unterricht durften immer nur so viele Schüler teilnehmen, wie bei Bombenalarm Platz im Schutzkeller gefunden hätten. Jeden Tag fuhr die junge Duisburgerin mit der Straßenbahn quer durch die Stadt, um zu den wechselnden Unterrichtsorten zu gelangen. Damals durfte Margarete von Locquenghien sogar die höhere Schule besuchen – unüblich für eine junge Frau. Doch ihre Lehrerin setzte sich für das kluge Mädchen ein und überzeugte die Eltern.
„Als es dann aber zu gefährlich wurde, evakuierten wir uns selbst“, berichtet Margarete von Locquenghien. Mit dem Zug flüchtete die Familie zu Bekannten in Mitteldeutschland, der Vater blieb zum Arbeiten zurück. Als der Krieg vorüber war, reiste er der Familie mit dem Fahrrad hinterher. Noch ein paar Wochen blieb die Familie, doch dann wollten sie nach Duisburg zurück. Mit einem Pferdewagen machte sich die Familie auf. Gezogen wurde das Gefährt von einem Pferd namens Lotti. „Unterwegs haben wir dann aber festgestellt: Die Stute war ein Hengst“, erinnert sich Margarete von Locquenghien amüsiert. Dem Geschlechterwechsel zum Trotz nannte die Familie ihr Zugpferd allerdings weiterhin Lotti.
In Duisburg führte Margarete von Locquenghien dann gemeinsam mit ihrem Vater ein Textilgeschäft. In dieser Zeit wurde sie auch Mutter eines Sohnes, Dirk. Als die Ehe mit Dirks Vater in die Brüche ging, schlug sie auch beruflich neue Wege ein und wechselte in eine Boutique für Damenmode. Während dieser Jahre fanden Margarete und ein Freund der Familie namens Eduard als Paar zueinander. Er hatte ganz in der Nähe ein Radiogeschäft. Mit Eduard und Dirk lebte die Duisburgerin ein ruhiges und fleißiges Leben. „Der Alltag bestand aus Arbeiten und meinem Kind“, erinnert sich Margarete von Locquenghien. Gemeinsam mit Lebensgefährte Eduard fuhr sie gern in den Urlaub, nach Italien oder Gran Canaria. Strand und gutes Essen, das wusste sie zu schätzen.
Mit seiner eigenen Familie siedelte Sohn Dirk 1983 aus beruflichen Gründen nach Süddeutlschand um. Heute lebt die Familie in Brucken. Im Jahr 2006 verstarb Eduard. In diesem Moment zeigte sich eine Qualität an Margarete von Locquenghien, die ihre Enkelin Kerstin besonders an ihr schätzt: „Sie macht immer das Beste aus einer Situation und verzweifelt nicht“, sagt Kerstin von Locquenghien. Und so blieb ihre Oma Margarete nicht allein in Duisburg zurück, sondern kam nach Kirchheim in die Nähe ihres Sohnes Dirk. Dessen Kinder, Kerstin und Florian, sowie die drei Urenkel Lenara, Noralie und Janika können ihre Oma und Uroma nun viel öfters sehen. „Meine drei Kinder wachsen mit einer Uroma auf – dass sie das erleben, ist unheimlich wertvoll“, sagt Kerstin von Locquenghien.
16 Jahre lang hat Margarete von Locquenghien in Kirchheim gelebt. In dieser Zeit standen Besuche der Familie an oberster Stelle, doch sie ging auch gerne auf den Wochenmarkt, ins Steingaustift zum Essen oder ins Café Hope. „Ich habe mich nie einsam gefühlt und war immer beschäftigt“, sagt sie. Doch seit dem Jahr 2021 kann sie nicht mehr allein leben. Zuerst zog sie in die Pflegeinsel, im August 2022 kam dann im Alter von 98 der „große Umzug“ nach Dettingen.
In diesen Tagen, wo Stricken, Fernsehen und Laufen nicht mehr gut möglich sind, da fühlt sie sich manchmal einsam, sagt Margarete von Locquenghien. Umso wichtiger sind die Besuche der Familie, die neben Zeitvertreib wie Bingo oder Kaffeenachmittagen Abwechslung und Gesellschaft in den Alltag bringen. Alle zwei bis drei Tage kommt die Familie vorbei. „Wir haben nun die Zeit, uns richtig kennenzulernen“, freut sich ihre Enkelin. Dabei waren sie und ihr Bruder schon früher gerne zu Besuch bei ihrer Oma Margarete. Die wusste, wie sie die Kinder für sich gewinnen konnte. „Sie hatte immer Maoam in ihrer Schürze“, erinnert sich von Locquenghien.
Dass sie einmal ein dreistelliges Alter erreicht, hätte Margarete von Locquenghien nie gedacht, sagt sie. Den 100. Geburtstag feiert die Jubilarin mit ihrer Familie. Der schwäbische Shanty-Chor „Die Neckar-Knurrhähne“ wird ihr zu Ehren zu Akkordeon-Klängen Lieder zum Mitschunkeln singen. „Wenn der Chor auftritt, darf auch das ganze Haus dabei sein“, sagt Margarete von Locquenghien, die eigentliche Feier mit Kaffee und Kuchen möchte sie aber allein mit der Familie genießen.
Wer Margarete von Locquenghien zum Geburtstag gratulieren möchte, muss sich übrigens nicht vor der Aussprache des Namens fürchten. Die Familie selbst spricht ihn „Lockenscheng“ aus, „wir wissen aber selbst nicht sicher, wie man ihn ausspricht“, sagt Kerstin von Locquenghien schmunzelnd. Der Name kommt aus dem Bretonischen, dort sollen schon im 13. Jahrhundert Vorfahren der Familie gelebt haben, berichtet sie und ergänzt: „Man sagt, sie wurden dann von Ludwig XIV. vertrieben – so kamen sie über Belgien nach Deutschland.“
Zu ihrem Geburtstag wünscht Kerstin von Locquenghien ihrer Großmutter viele Gäste und Gespräche – aber auch eine Zeit ohne Schmerzen. Margarete von Locquenghien selbst wünscht sich noch ein paar schöne Jahre ohne weitere Beschwerden. Und diese Zeit wird ihre Familie so oft wie möglich mit ihr zusammen verbringen.