Sie ist stark sehbehindert, hat nur noch ein Sehvermögen von vier Prozent. Aber das hindert Linn Kazmaier nicht daran, verschiedene Sportarten zu betreiben. Die Neunjährige aus Oberlenningen macht Leichtathletik, Biathlon und Skilanglauf. Außerdem fährt sie Rollski und klettert und hat bereits einmal am Silvesterlauf auf die Teck teilgenommen – ein Tausendsassa mit einem großen Bewegungsdrang.
„Sport macht Spaß und gibt mir ein gutes Gefühl. Ohne wäre es langweilig“, meint Linn Kazmaier und lächelt über beide Backen. Trotz ihrer Sehbehinderung hat sie viel Mut. Dies zeigt sich auch daran, dass sie Saltos auf dem Trampolin im Garten schlägt. Zudem steigt sie furchtlos auf das hohe Baumhaus und rutscht von dort im Eiltempo hinunter. Dass es dabei den einen oder anderen blauen Flecken gibt, stört sie nicht im Geringsten.
Vor Kurzem wurde sie in Aalen Württembergische Meisterin der U16 im Leichtathletik-Dreikampf. Ihre Leistungen: 2,66 Meter im Weitsprung, 8,9 Sekunden über 50 Meter und 3,11 Minuten über 800 Meter. Ganz stolz nahm sie den 35 Zentimeter großen Silberpokal des Sozialministeriums, ein kleines Gummikänguru und eine Packung Nudeln entgegen. „Über die Teigwaren habe ich mich genauso gefreut wie über den Pokal“, sagt die Neunjährige, die für den TSV Oberlenningen startet. Im Skilanglauf geht sie für die Skizunft Römerstein ins Rennen.
Ganz begeistert war Linn Kazmaier, als sie im Februar an einem Schnupperkurs im Biathlon teilnahm. Der fand im Schwarzwald in der Nähe von Freiburg statt. Die Sehbehinderten brauchen das Gewehr beim Laufen nicht mitzutragen. Sie schießen liegend mit Laser und haben dabei einen Kopfhörer auf. Wenn sie es schaffen, beim höchsten Ton abzudrücken, landen sie einen Treffer in der Scheibenmitte. „Das war eine tolle Sache“, freut sich die Drittklässlerin.
Auch im vergangenen Jahr erlebte sie etwas Besonderes. Sie durfte beim DFB-Pokalspiel zwischen dem FC St. Pauli und Borussia Mönchengladbach mit einlaufen. Mit dabei war ihr achtjähriger Bruder Lasse, der Handball bei der SG Lenningen spielt. „Sie gibt ihm Mut und er sieht für sie“, sagt Mutter Gabi Kazmaier über ihre beiden Kinder. Linn sei nie betüttelt worden und habe wegen ihrer Behinderung nie eine Sonderstellung eingenommen. Dazu trug auch bei, dass sie in einen „normalen“ Kindergarten ging und die „normale“ Grundschule in Oberlenningen besucht. Linn erhält dort Hilfe von einer Kraft, die ein freiwilliges soziales Jahr absolviert. Unterstützung gibt’s zusätzlich von einer Sehbehinderten-Schule in Stuttgart.
Das kleine Mädchen kam schon sehbehindert zur Welt. „Wir haben bis heute keine Diagnose. Man vermutet einen Gendefekt“, so Gabi Kazmaier. Sie wusste jedoch von Beginn an, wie mit dem Handicap umzugehen ist und schuf die besten Bedingungen für ihre Tochter. Wie es dazu kam, mutet fast wunderlich an. Da ihr Cousin am Down-Syndrom leidet, hatte sie bereits Erfahrung mit einem behinderten Menschen. Hinzu kam: Während ihres Studiums als Sonderschullehrerin und Diplompädagogin machte Gabi Kazmaier 1996 ein halbjähriges Praktikum in Colorado/USA. Dort betreute sie Menschen mit Behinderung beim alpinen Skilauf. „Da machten sogar Blinde und Mehrfachbehinderte mit“, erinnert sich die frühere Leichtathletin des TSV Köngen, „diese Zeit war genial und richtungsweisend für mich.“
Und noch eine Arbeitsstelle wurde für sie wichtig: Von 2001 bis 2003 arbeitete sie an einer Hochgebirgsklinik für Asthmakranke in Davos. In der Schweiz bot sie auch Skikurse für behinderte Menschen an. Danach zog sie zu ihrem Mann Falk nach Oberlenningen, wo die 42-Jährige heute im Sonderpädagogischen Bildungs- und Beratungszentrum mit Förderschwerpunkt Lernen tätig ist. Sie unterrichtet Schüler mit Lernbehinderungen in Mathematik, Deutsch sowie Englisch und veranstaltet mit ihnen zahlreiche Aktivitäten.
In ihrer Freizeit setzt sich Gabi Kazmaier für Inklusion ein. Sie hat eine inklusive Leichtathletik-Gruppe gegründet. In ihr tummeln sich 20 nicht behinderte Kinder, ein körperbehindertes Kind, zwei Seh- und zwei Hörbehinderte. Im vergangenen Jahr organisierte sie in Lenningen das erste Inklusions-Sportfest. Aber das reicht ihr noch nicht. Sie träumt von einem Sportzentrum für Behinderte und Nichtbehinderte.
„Bewegung ist für alle wichtig. Ich möchte die Leute durch Sport aus ihrem Alltag herausholen und ihnen zeigen, was man alles erreichen kann.“ Die 42-Jährige hat schon Ideen, wie das Ganze aussehen soll. Aber konkret ist noch nichts. „Fragen Sie mich in einem Jahr wieder“, sagt die agile Frau, die im September als Betreuerin beim paralympischen Jugendlager in Rio de Janeiro mithalf.
Dass Dinge in Bewegung kommen, wenn man sich dahinterklemmt, sieht man zum einen an ihrer Tochter Linn. Andererseits aber auch an dem 52-jährigen Ewald Löw. Ihn brachte sie zum Tandemfahren. Der Zimmermeister aus Brucken, der seit einem schweren Arbeitsunfall stark sehbehindert ist, wollte anfangs nichts vom Radeln wissen. Doch dann fand er daran Gefallen und bewältigte mit seiner Pilotin immer längere Strecken. Zuerst war es die „Tour de Ländle“ über 96 Kilometer, schließlich der Jakobsweg über 1 000 Kilometer von der französisch-spanischen Grenze bis nach Santiago de Compostela. „Das war das höchste der Gefühle für ihn. Er hat anderen damit Mut gemacht“, sagt Gabi Kazmaier und hofft auf Nachahmer, die sich durch ihre Einschränkung nicht bremsen lassen.
Info Eingebettet in die Woche des Sehens, die noch bis zum 15. Oktober geht, ist am heutigen Donnerstag der Welttag des Sehens. Weltweit gibt es derzeit 39 Millionen blinde Menschen.