Warmer Sommerregen beschert Jebenhausen an diesem Tag die ersehnte Feuchtigkeit. Christine Lipp-Wahl ist bester Laune, als sie mit Schirm beim verwunschenen Barockschlösschen eintrifft. Dort steht die erste von neun Stelen, die seit Kurzem den jüdischen Erinnerungsweg quer durch den Ort bilden. Christine Lipp-Wahl ist Vorsitzende des Vereins „Haus Lauchheimer“, der sich den Erhalt und die Förderung jüdischen Kulturerbes im Ort auf die Fahnen geschrieben hat. Und die jüdische Geschichte ist eng mit dem Schloss verbunden. 1467 nämlich ließen sich die Freiherren von Liebenstein in Jebenhausen nieder. „Ihr Plan war, mit einem besonderen Schatz Geld zu verdienen: dem Sauerwasser“, verrät Lipp-Wahl, die Führungen durch den Erinnerungsweg anbietet. Der Plan ging auf: Die Liebensteiner gründeten so etwas wie die erste mittelalterliche Sprudelfabrik. Im 17. Jahrhundert kurte, wer etwas auf sich hielt, im kühlen Sauerwasser des Ortes. Damals gab es noch kaum warme Quellen, die für Konkurrenz sorgten. Doch 1764 war Schluss: Die Wasserquelle und damit auch die Geldquelle versiegte.
Es sollte nur wenig mehr als ein Jahrzehnt dauern, bis sich die Liebensteiner neu orientierten: Jedes Kind in Jebenhausen lernt heute das knackige Datum „7. 7. 1777“. Da nämlich kam es zum wegweisenden Vertragsschluss zwischen den Herren von Liebenstein und neun jüdischen Männern. Die Liebensteiner waren bis 1806 reichsunmittelbar, das heißt sie unterstanden direkt dem Kaiser. Deshalb hatten sie das Recht, sich über ein wenig judenfreundliches Dekret der Herzöge von Württemberg hinwegzusetzen. „Im Schutzbrief spürt man förmlich die Handschrift der Juden“, freut sich Christine Lipp-Wahl über das Musterbeispiel an Toleranz. Dadurch wurde den heimat- und rechtlosen Juden die Ansiedlung und der Aufbau eines eigenen Gemeindelebens ermöglicht.
Die Neuankömmlinge waren ebenso bettelarm wie die Ortsansässigen von Jebenhausen, das 1206 erstmals urkundlich erwähnt wurde. Erst im 19. Jahrhundert kam es zu wirtschaftlichem Aufschwung, maßgeblich infolge der industriellen Revolution. „Im Jahr 1850 lebten hier rund 550 Juden und 600 Christen“, rechnet die Führerin vor. Darunter waren viele Wirte und sage und schreibe elf jüdische Fabrikanten, die später nach Göppingen übersiedelten. Mit zunehmender Assimilation wanderten die jüdischen Jebenhäuser ab. Im Jahr 1900 musste sogar die Synagoge geschlossen werden. An ihrem Platz steht heute das Feuerwehrgerätehaus.
Ein paar Schritte weiter ist ein Haus von außen zu besichtigen, das einst als „jüdisches Armenhaus“ für acht arme Familien errichtet wurde. „Wohltätigkeit spielt eine wichtige Rolle im jüdischen Glauben“, erläutert Lipp-Wahl, die eigentlich Apothekerin ist und als Laiin tief in die Geschichte eintaucht. Außerdem schlägt ihr Herz für Politik: Nach vielen Jahren im Göppinger Gemeinderat sitzt sie nun für Bündnis 90/Die Grünen im Kreisparlament.
Die Begeisterung der 56-Jährigen reißt die Zuhörer mit. Ihre „Lieblingsstele“ ist Nummer 7 am Vorderen Berg, der einst den Namen „Vorderer Judenberg“ trug. „Ein Tenor, ein Widerstandskämpfer, ein Nobelpreisträger“ steht auf der Stele. Sie ist drei Persönlichkeiten gewidmet, die hier Spuren hinterließen. Der Tenor Heinrich Sontheim kam im Gasthaus König David zur Welt. Der Widerstandskämpfer Georg Elser traf sich in Jebenhausen mit seiner Freundin, ehe er 1938 ein Attentat auf Adolf Hitler verübte und 1945 im KZ hingerichtet wurde. Der Bäcker Koch buk einst in dieser Straße und sollte später als Großvater des Nobelpreisträgers Albert Einstein in die Geschichte eingehen.
Weiter geht‘s zum „Haus Lauchheimer“, in dem die Jüdin Inge Auerbacher Unterschlupf gefunden hatte. Sie überlebte das KZ und siedelte in die USA über. Dort holte sie die Schule nach, promovierte in Chemie und lebte ein typisches Einwandererleben. Ihre Wurzeln vergaß sie nicht. Noch heute kommt die fast 90-Jährige immer wieder auf Heimatbesuch nach Jebenhausen. Die Stele trägt einen wegweisenden Satz von ihr: „Trotz allem was passiert ist, gehen einige meiner glücklichsten Kindheitserinnerungen auf die zwei Jahre zurück, die wir in Jebenhausen verbracht haben.“ „Diese Aussage ist uns ganz wichtig“, sagt Christine Lipp-Wahl: „Inge Auerbacher ist an Versöhnung gelegen, nicht an Schuldzuweisung, und das ist auch das Anliegen unseres Vereins und das Ziel des Erinnerungsweges.“
Entsprechend beeindruckt erreicht der Besucher die letzte Stele und Höhepunkt des Rundgangs: den jüdischen Friedhof am Ortsrand. Mehrere Hundert Grabsteine sind zu sehen, wenige herausgeputzt, viele bemoost und verwittert. Wer will, bekommt den Schlüssel beim Bezirks- amt. Aber auch der Blick über die Mauer lohnt sich. Im Internet gibt es einen Plan mit den einzelnen Gräbern, liebevoll gezeichnet von Arnold Kuppler, ehemals evangelischer Pfarrer in Jebenhausen.
Wer den Weg nachvollzogen hat, kann auch die Motivation der Mitglieder vom Verein „Haus Lauchheimer“ nachvollziehen und trägt dazu bei, die Erinnerung wachzuhalten. Jebenhausen dürfte noch so manche Überraschung bereithalten. In einem unbewohnten Haus im Ortskern beispielsweise wird eine Mikwe vermutet, ein rituelles Tauchbad, das im jüdischen Glauben eine zentrale Rolle spielte. 400 davon soll es in Deutschlands Kellern noch geben. Vielleicht zieht Jebenhausen eines Tages mit Speyer gleich. Dort ist eine besonders schöne und gut erhaltene Mikwe zu besichtigen.
Wer an einer Führung Interesse hat, wendet sich an haus-lauchheimer@gmx.de. Die Vereinsmitglieder geben ihr Wissen gegen eine Spende gern weiter. Wer den Erinnerungsweg allein ablaufen will, beginnt am besten bei Stele 1 am Schloss, denn dort kann man auch gut parken. Das sehenswerte kleine jüdische Museum befindet sich an der Ortsdurchfahrt bei Stele 2. Es ist mittwochs und samstags von 13 bis 17 Uhr geöffnet und sonn- und feiertags von 11 bis 17 Uhr. Infos gibt es auf der Seite www.haus-lauchheimer.de.