Medizin
Ein verfrühter Start ins Leben

Im Level-1-zertifizierten Perinatalzentrum des Klinikums Esslingen können Frühgeborene unter 1250 Gramm versorgt werden. Ob das so bleibt, entscheidet sich jedes Jahr aufs Neue. Eine zentrale Rolle spielt dabei die Anzahl der Geburten. 

Hilfe für die Kleinsten: Maxim kam im Klinikum Esslingen 14 Wochen zu früh auf die Welt. Fotos: Carsten Riedl

Am Sonntag, 10. November, wurden Natascha und Marcel Grussenmeyer aus Frickenhausen-Linsenhofen im Klinikum Esslingen Eltern des kleinen Maxim. Am Tag seiner Geburt wog er nur 695 Gramm und war 33 Zentimeter groß. Eigentlich wäre es erst 14 Wochen später so weit gewesen. „Der errechnete Geburtstermin war der 16. Februar“, erzählt die 31-jährige Mutter, die ihren Sohn seither jeden Tag mit ihrem Mann im Perinatalzentrum der Klinik besucht. Zum Schlafen geht Natascha Grussenmeyer nach Hause. „Da kann ich besser neue Kraft tanken für den nächsten Tag.“ Das Zentrum hat eine Level-1-Zertifizierung, das bedeutet, es dürfen dort Frühchen mit einem Geburtsgewicht unter 1250 Gramm aufgenommen werden. Also die Kleinsten der Kleinen. Wie Maxim. 

„Er ist ein kleiner Kämpfer und schlägt sich bisher wirklich gut. An seinem zweiten Lebenstag hatte er eine kleine Hirnblutung, die stabilisiert werden konnte“, berichtet Britta Brenner. Sie gehört zum Leitungsteam der Klinik für Kinder und Jugendliche und ist Oberärztin der Neonatologie, also mit ihren Kolleginnen und Kollegen für die Versorgung der Frühgeborenen zuständig. „Erst ab der Schwangerschaftswoche 37+0 zählen die Kinder nicht mehr als Frühgeborene. Ab der 25. Schwangerschaftswoche werden sie in Deutschland gemäß der medizinischen Leitlinien in der Regel maximal versorgt“, erklärt Britta Brenner. Zwischen den Wochen 22+0 und 24+0 gebe es eine Grauzone, in der gemeinsam mit den Eltern nach einer umfassenden Aufklärung über die möglichen Risiken und Folgen abgewogen werde, ob eine medizinisch maximal mögliche oder eine palliative Therapie gestartet werde. Maxim wurde in der Schwangerschaftswoche 26+0 geboren. 

Plötzlich ging alles ganz schnell

„Wir waren freitagabends noch mit Freunden essen, bis dahin war alles okay“, erzählt Marcel Grussenmeyer (35). Dann der Schock: Seine Frau bekam Blutungen. In der Hektik seien sie erst mal nach Nürtingen in die Klinik gefahren. Von dort wurde die 31-Jährige nach einer ersten Untersuchung mit dem Rettungswagen nach Esslingen gebracht. „Der Gebärmutterhals war auf nur noch 1,5 Zentimeter verkürzt, normal wären zehn gewesen“, berichtet Natascha Grussenmeyer. Maxim lag mit dem Kopf bereits nach unten. In Esslingen bekam sie Lungenreifespritzen für die noch unreifen Lungen ihres ungeborenen Kindes. Bis Samstagabend gingen die Blutungen zurück. Am nächsten Morgen musste Maxim nach einem Blasensprung per Kaiserschnitt geholt werden. Eine natürliche Geburt wäre zu dem Zeitpunkt seiner Entwicklung zu anstrengend für ihn gewesen.

Die Kinder sind wochenlang bei uns. Da sind für die Eltern kurze Wege wichtig.

Oberärztin Britta Brenner

 

„Ich hatte nicht damit gerechnet, in diesem Jahr noch Vater zu werden. Das sind so Momente, auf die kann man sich nicht vorbereiten“, sagt Marcel Grussenmeyer drei Wochen später. Da wiegt Maxim rund 900 Gramm und ist 35 Zentimeter groß. Über mehrere Schläuche und Kabel ist der kleine Junge mit den Überwachungsmonitoren verbunden, die die Kontrollwerte für die Sauerstoffsättigung im Blut, die Atmung, den Herzschlag und den Blutdruck anzeigen. „Wir haben bereits drei Fehlgeburten erlebt. Maxim ist das erste Kind, das geblieben ist, wenn auch unter erschwerten Umständen. Er ist unser kleines Wunder“, erzählen die frisch gebackenen Eltern. 

Spezialistenteam mit viel Erfahrung

Dass Maxim nach seinem sehr frühen Start ins Leben nahe dem elterlichen Wohnort geholfen werden kann, ist der erneuten Level-1-Zertifizierung des Perinatalzentrums des Klinikums Esslingen zu verdanken. Seit vielen Jahrzehnten werden in der Klinik für Kinder und Jugendliche Frühgeborene behandelt, selbst wenn ihr Geburtsgewicht nur wenige Hundert Gramm beträgt. Das Team von spezialisierten Ärztinnen und Ärzten mit der Schwerpunktqualifikation „Neonatologie“ (Neugeborenenintensivmedizin) und die fachlich entsprechend qualifizierten Pflegekräfte kümmern sich um die Allerkleinsten und ihre Familien. Die Zertifizierung als Level-1-Perinatalzentrum ist trotzdem keine Selbstverständlichkeit. 

Natascha Grussenmeyer mit ihrem zu früh geborenen Sohn Maxim.

Neben der vorhandenen Spezialisierung des Personals und der Ausstattung mit den notwendigen Geräten ist dafür die Anzahl der Geburten von Kindern unter 1250 Gramm ein zentraler Knackpunkt: Mindestens 25 müssen es pro Jahr sein. Bis November waren es bereits 29. Die wohnortnahe und hochqualifizierte Versorgung ist so zumindest für das kommende Jahr für Betroffene im Landkreis Esslingen gesichert. „Die nächsten Level-1-Zentren liegen in Stuttgart, in Ulm und in Tübingen“, erklärt Britta Brenner. „Wird die geforderte Zahl nicht erreicht, werden wir auf Level 2 herabgestuft und dürfen in Esslingen dann nur noch Kinder ab 1500 Gramm behandeln. Käme ein leichteres Kind bei uns auf die Welt, müsste es verlegt werden, ungeachtet der damit verbundenen Risiken“, beschreibt die Oberärztin die absurde Vorgabe. Level-1 bedeute zudem, dass man den Baby-Notarzt stellen müsse, was das Esslinger Klinikum für den Landkreis tut. „Werden wir nicht mehr zertifiziert, entfällt diese Pflicht. Wer dann übernehmen könnte, ist völlig unklar. Denn keiner hält das entsprechende Personal vor, der den Notarzt aktuell nicht stellen muss“, betont Britta Brenner. 

„Die Politik ist der Ansicht, die Qualität der Frühchenversorgung werde besser, wenn man sie zentralisiert vornimmt. Weil dann mehr Kinder vom selben Fachpersonal behandelt werden“, erklärt die Oberärztin. Dabei würden allerdings viele weitere wichtige Faktoren außer Acht gelassen. „Die Kinder sind viele Wochen bei uns. Da sind kurze Wege wichtig, sodass die Eltern zum Beispiel die Möglichkeit haben, zu Hause zu übernachten.“ Nicht monatelang ununterbrochen in der Klinik sein zu müssen, sei auch hilfreich, wenn es Geschwis­terkinder gebe oder die berufliche Situation es erfordere. Dazu gebe es in den großen Zentren wie überall Personalmangel und es sei daher keinesfalls sicher, ob man ein Baby im Akutfall unterbekomme.

Maxim kam im Klinikum Esslingen 14 Wochen vor dem errechneten Geburtstermin mit rund 700 Gramm auf die Welt.

Im Sommer 2025 werden erneut die für die Zertifizierung notwendigen Zahlen gesammelt. Dann gehe das Zittern, ob die so essenziell wichtige Arbeit als Level-1-Zentrum auch 2026 fortgesetzt werden könne, aufs Neue los, sagt Britta Brenner. Natascha und Marcel Grussenmeyer können diese Vorgabe als Betroffene nicht nachvollziehen: „Dieses Zentrum an der Esslinger Klinik ist für den Landkreis so wichtig. Die Politik spart im Gesundheitswesen gerade dort, wo man froh sein muss, wenn die notwendigen Versorgungsstrukturen vorhanden sind.“

Für den Frühchen-Papa wäre die tägliche Fahrt in eine deutlich weiter entfernte Klinik nicht möglich. „Ich arbeite als Küchenleiter in einem Alten- und Pflegeheim und habe zum Glück einen sehr verständnisvollen Arbeitgeber, sodass ich mich die ersten drei Wochen krankschreiben lassen konnte. Wenn ich jetzt wieder arbeite, fahre ich erst abends in die Klinik. Jeden Tag. Das ist mir wichtig. Müsste ich nach Stuttgart, Tübingen oder Ulm, wäre das nicht machbar“, sagt Marcel Grussenmeyer.

Melanie Röhrle kümmert sich um den kleinen Maxim, der 14 Wochen zu früh geboren ist.

 

Versorgung der Frühgeborenen

Jährlich werden im Klinikum Esslingen auf der Kinder-Intensivstation und der Neonatologie rund 450 bis 500 Früh- und Neugeborene behandelt. Pro Jahr sind es im Schnitt 25 bis 30 Kinder mit einem Geburtsgewicht unter 1500 Gramm. Das leichteste Frühchen in Esslingen wog bei seiner Geburt in der 26. Schwangerschaftswoche nur 350 Gramm.

Der Großteil der Frühgeborenen kommt weltweit zwischen der 32. und 37. Schwangerschaftswoche auf die Welt. Die Risiken nehmen in dem Zeitraum ab, schwere Erkrankungen sind aber nicht ausgeschlossen. eis