Auf den ersten Blick ist nicht gleich erkennbar, worum es sich handelt. Marion Korsin breitet eine bunte Decke aus, auf der verschiedene Gegenstände eingenäht sind: Knöpfe, ein Schlüsselanhänger und ein Holzring, der aussieht wie ein Beißring für Babys. „Es ist eine Alzheimerdecke“, sagt die Hobbynäherin aus Leinfelden. Die ehemalige Telefonistin hat Erfahrung mit der Krankheit. Ihre mittlerweile verstorbene Mutter litt 14 Jahre daran. Doch als sie 2018 mit 86 Jahren starb, kannte ihre Tochter dieses Hilfsmittel für Demenzkranke noch nicht. Nesteldecke wird sie im Fachjargon genannt. „Sie dient der Beschäftigung der Hände“, erklärt Nina Singer von der Alzheimer Gesellschaft Baden-Württemberg. Die Fachfrau für Soziale Arbeit berät dort seit einem Jahr mit einer Kollegin telefonisch und per Mail Betroffene und deren Angehörige.
„Nicht jede Demenz ist eine Alzheimererkrankung“, betont sie. Auch werde die Nesteldecke nicht nur bei Alzheimererkrankten benutzt. „Sie kann bei Unruhe zur Beschäftigung der Finger und Hände in der fortgeschrittenen Phase der Demenz eingesetzt werden“, erklärt sie. Im Frühstadium der Erkrankung könnten Betroffene noch gut kommunizieren. Interessen blieben erhalten. Es seien noch mehr Fähigkeiten da. Wenn jemand körperlich geschwächter sei oder immobil werde und in der fortgeschrittenen Phase eine motorische Unruhe der Hände habe, sei sie sinnvoll. Korsin kennt das aus Erfahrung: „Meine Mutter hat überall die Knöpfe an der Kleidung weggedreht. Ich habe nur noch Reißverschlüsse eingenäht“, erinnert sie sich. Deshalb habe sie auch auf eine ihrer „Alzheimerdecken“ Knöpfe zum Auf- und Zumachen angenäht.
Sie hat ihren Prototyp selbst entwickelt. „Die Teile sollten gut zu begreifen sein, stabil, ansprechend, bunt und Erinnerungen auslösend“, sagt sie. Sie verwende dafür gebrauchte Gegenstände vom Flohmarkt, wie Kinderspielzeug, das sie reinige oder stöbere in ihren Vorräten an Knöpfen. Ihr Prinzip sei das Upcycling.
Auf die Idee kam die Hobbynäherin zufällig, die bis dahin auch Täschchen aus Schokoladenpapier oder Topflappen aus Stoffresten gefertigt hatte. Vor gut eineinhalb Jahren stand sie an der S-Bahnhaltestelle und hörte, wie sich zwei Frauen über Decke und Armstulpen für Demenzkranke unterhielten. „Ich bin damals aus allen Wolken gefallen. Für mich wäre es sehr schön gewesen, wenn meine Mama sowas gehabt hätte.“
Vier Decken verschenkt
Vier der Decken hat sie bereits im Freundes- und Bekanntenkreis an Angehörige von Alzheimererkrankten verschenkt, drei weitere davon wollte sie jüngst auf dem Ostereiermarkt im Ostereiermuseum in Sonnenbühl verkaufen. „Ich würde auch welche auf Anfrage individuell anfertigen“, sagt sie. Singer rät, die Decke so zu gestalten, dass sie einen individuellen Bezug zu den Interessen oder der Biografie der Betroffenen oder des Betroffenen hat. „Wenn Opa oder Mama gern Seide getragen haben, sollten solche Stoffe einbezogen werden.“ Oder das Stoffmotiv sollte das eigene ehemalige Lieblingstier widerspiegeln. „Wer selber die Decke näht, kann solche Vorlieben aufgreifen und es kann darauf geachtet werden“, meint sie. Auch könnten statt der Nesteldecke ein Nesteltier wie Hund, Katze oder Schaf genäht und darauf verschiedene Gegenstände appliziert werden. Wichtig sei, keine spitzen Gegenstände zu verwenden, die piksen oder an denen man sich schneiden könne. Nähanleitungen zum Selbermachen gebe es auch im Internet.
„Grundsätzlich wollen Menschen mit Demenz weiterhin am Alltag teilhaben und miteinbezogen werden“, betont Singer. Es gehe um Teilhabe. Alle, auch Menschen mit Demenz, wollten und suchten nach Sinnhaftigkeit im Tun. Sie möchten jemanden anderen helfen, anderen einen Gefallen tun. Korsin hat deshalb ihrer Mutter Wolle zum Aufwickeln gegeben. „Und wenn ich Kuchen gebacken habe, hat sie die Äpfel geschält.“
Demenzerkrankungen
Demenzkranke: In Deutschland leben heute nach Angaben der Deutschen Alzheimer Gesellschaft rund 1,8 Millionen Menschen mit Demenzerkrankungen. Rund zwei Drittel davon werden in der häuslichen Umgebung von Angehörigen betreut und gepflegt. Jährlich erkranken rund 300.000 Menschen neu. Ungefähr 60 Prozent haben eine Demenz vom Typ Alzheimer. Die Zahl der Demenzerkrankten wird bis 2050 auf 2,4 bis 2,8 Millionen steigen, sofern kein Durchbruch in Prävention und Therapie gelingt.
Die Alzheimer Gesellschaft Baden-Württemberg biete seit ihrer Gründung 1994 Beratung und Hilfe zur Selbsthilfe. Mit steigenden Beratungsanfragen wurde im Laufe der Jahre das Beratungstelefon eingerichtet. 2023 kamen fast 1.200 Anfragen per Telefon und E-Mail.
Ursachen: Nicht jede Gedächtnisstörung ist auf Alzheimer zurückzuführen. Man unterscheidet zwischen primärer und sekundärer Demenz. So kann eine sekundäre Demenz beispielsweise durch schwere Depression, Vitamin-, Hormon-, Flüssigkeitsmangel oder Tumore verursacht werden. Bei der primäre Demenz beginnt der Krankheitsprozess direkt im Kopf. Es gibt dafür bisher keine Heilung.
Medikamente: Es gibt verschiedene Medikamente, die den Krankheitsverlauf verlangsamen und hinauszögern können. Dies wird bereits als Behandlungserfolg gewertet. Ob und wie die Medikamente wirken, ist dabei allerdings sehr unterschiedlich. Einige Menschen profitieren von der Wirkung, andere haben kaum etwas davon, wieder andere müssen wegen der Nebenwirkungen die Medikamente absetzen. mb