Die Kirchengeschichte ist fast immer eine reine „Männergeschichte“. Das gilt seit 2000 Jahren, und es gilt auch für die Zeit des Nationalsozialismus. Kirchlicher Widerstand wird als Widerstand von männlichen Theologen dargestellt. „Ich dachte mir irgendwann, das geht doch nicht“, sagt Paul Dieterich, Prälat im Ruhestand, der seit 13 Jahren im Weilheim lebt und der in Kirchheim zur Schule gegangen ist.
Vor zehn Jahren hat Paul Dieterich gemeinsam mit Elsa-Ulrike Ross das Buch „Der Prediger von Buchenwald“ neu herausgegeben. Es beschreibt das Leben und Sterben von Paul Schneider. Der Pfarrer weigerte sich strikt, Eingriffe des NS-Staats in die Kirchenführung anzuerkennen. Konkret ging es um seine eigene Ausweisung aus der Rheinprovinz, die für ihn nicht rechtmäßig war und gegen die er sich auf seine Art wehrte: Anstatt sein Einverständnis zu erklären, zog er es vor, ins Gefängnis und schließlich ins Konzentrationslager zu gehen. Dort, in Buchenwald, wurde er heute vor 80 Jahren, am 18. Juli 1939, durch eine Giftspritze ermordet.
Das aktuelle Buch, das Paul Dieterich nun vorgelegt hat, befasst sich mit demselben Thema wie „Der Prediger von Buchenwald“. Es hat aber nicht mehr Paul Schneider als titelgebende Hauptfigur, sondern dessen Ehefrau und Witwe Margarete, in der Familie allgemein „Gretel“ genannt.
„Ich habe ja ein Leben lang schon mit dem Thema zu tun“, erzählt Paul Dieterich. Schließlich war Margarete Schneider seine Tante, die jüngere Schwester seines Vaters Karl, der von 1952 bis 1966 Pfarrer in Jesingen war. Er selbst hat seinen Vornamen nach dem verstorbenen Onkel erhalten: „Mein Name Paul war damals ein Bekenntnis - zwei Jahre, nachdem Paul Schneider umgebracht worden war.“ Der Name wurde ihm aber auch zum Vermächtnis.
In Kirchheim am Gymnasium habe einmal ein Lehrer tief bewegt zwei Unterrichtsstunden über Paul Schneider gehalten. „Als ich dann sagte, dass das mein Onkel ist, war er tief beeindruckt. Dann dachte ich mir, ich sollte mich doch einmal intensiver mit Paul Schneider befassen.“ Das hat er getan, und Jahre später, wenn er theologische Schriften offen in die DDR „einführte“, war seine nahe Verwandtschaft mit dem Antifaschisten Paul Schneider öfters von Vorteil. Selbstkritisch erinnert er sich daran, dass er in solchen Fällen „die Paul-Schneider-Karte“ ziehen musste: „Dann ging‘s.“
Nun aber wollte er sich eben vorrangig mit „der Gretel“ befassen. Zunächst ist das Buch aber seine eigene Familiengeschichte: die Geschichte der Dieterichs. Stolz sind sie auf ihren Urahnen, den Münsterprediger Konrad Dieterich, der vor gut 400 Jahren nach Ulm kam. Ebenso selbstbewusst wie selbstironisch stellt der frühere Prälat, der zur zehnten Nachfahrengeneration nach dem großen Konrad gehört, fest: „Die Dieterichs können eigentlich nichts anderes als Pfarrer.“
Die Söhne wurden fast alle Pfarrer, die Töchter fast alle Pfarrfrauen - oder „Pfärrinnen“, wie man damals sagte. Insofern war der Lebensweg Margaretes völlig normal. „Wo immer sie hinkam, gab es gleich einen Frauenkreis, einen Singkreis und einen Mädchenkreis“, erzählt ihr Neffe.
Gretel verteidigt „seinen Weg“
Andererseits war sie 63 Jahre lang - bis zu ihrem Tod Ende 2002 mit fast 99 Jahren - die Witwe Paul Schneiders. Eine ihrer Lebensaufgaben bestand darin, den Lebensweg ihres Mannes zu verteidigen. Selbst ihre eigenen Geschwister zeigten anfangs nur wenig Verständnis für dessen Haltung. Immerhin ließ er seine Frau mit sechs Kindern alleine zurück.
„Gretel hat immer gesagt, sie selbst wäre nicht bis zum Äußersten gegangen“, berichtet der Neffe im persönlichen Gespräch. Dann habe sie stets hinzugefügt: „Aber es ging nicht um mich. Es ging um seinen Weg.“ Auch im Buch über Gretel wird diese Einstellung immer wieder deutlich: Hätte Paul Schneider seinen Weg nicht mit letzter Konsequenz beschritten, wäre ihm das Rückgrat gebrochen.
Wichtig für Paul Dieterich: „Es geht nicht um Legendenbildung oder gar um Märtyrerverehrung. Beiden, Paul und Margarete Schneider, ging es stets um Wahrheit und Wahrhaftigkeit.“
Dazu kommt gelebtes Christentum, wenn es um die Vergebung geht: Margarete Schneider hat später sogar versucht, Martin Sommer - den berüchtigten „Henker von Buchenwald“ - im Pflegeheim zu besuchen. Wie ihr Mann Paul, habe Gretel keinen Unterschied gemacht, auch später nicht bei der Frage, wie man mit früheren Stasi-Mitarbeitern umgehen solle. Sie meinte: „Ob Nazi oder Kommunist, das sind alles Menschen, die von der Vergebung leben.“
Diese Überzeugung habe seine Tante „großartig verwirklicht“, sagt Paul Dieterich. Unter anderem deshalb hat er das Buch über sie geschrieben: „Der Gretel ein Denkmal zu setzen, war für mich eine wichtige Sache.“