Zwischen Neckar und Alb
Eine größere Orgel hat nur das Ulmer Münster

Musik Die Orgel der Stadtkirche St. Dionys ist die zweitgrößte in Baden-Württemberg. Die Besonderheit: Sie ist mit einem seltenen Fernwerk ausgestattet. Von Rainer Kellmayer

An einem solchen Werke möchte man jung werden“ schrieb Christian Finck. Kurz vor seiner Pensionierung hatte der Stadtkirchenkantor 1904 die Einweihung der neuen, von der Ludwigsburger Firma Walcker erbauten Orgel in der Esslinger Stadtkirche erlebt.

Es ist ein imposantes Instrument: Vier Manuale und ein Pedal stehen dem Organisten zur Verfügung, und aus den 91 Registern mit 6550 Orgelpfeifen und vier Schwellwerken kann eine schier unendliche Palette an Klängen und Farben gezaubert werden. Nach dem Ulmer Münster hat St. Dionys damit die zweitgrößte Orgel in Württemberg.

Die Stadtkirchenorgel wartet mit einer weiteren Besonderheit auf: „Das mit 13 Registern ausgestattete Fernwerk der Orgel ermöglicht es, den Klang durch das Kirchenschiff wandern zu lassen“, erklärt der Kirchenmusikdirektor Uwe Schüssler, der seit dem Jahr 1989 an der Esslinger Stadtkirche für die Kirchenmusik zuständig ist. Durch spezielle, über Klappen gesteuerte Öffnungen im Kirchendach und über dem Altarraum entsteht ein reizvoller Stereoklang, der auch Echowirkungen ermöglicht. In Deutschland gibt es nur wenige Orgeln mit einem Fernwerk – neben Esslingen beispielsweise im Regensburger Dom oder in der St. Michaelis Kirche in Hamburg.

Möglich wurde die Erweiterung der Orgel um das Fernwerk im Jahr 1905 durch die großzügige Spende von Otto Bayer, ein Esslinger Bürger und Musikmäzen. „Zu Ehren Bayers wurde am Prospekt der Orgel eine Plakette angebracht“, sagt Uwe Schüssler. Das Fernwerk wird vom Spieltisch der Orgel aus bedient, ist jedoch räumlich weit entfernt von der Orgelempore. Hoch über dem Kirchenschiff wurde unter dem Dach eine zweite, kleinere Orgel eingebaut, deren Pfeifen elektro-pneumatisch aktiviert werden.

Mit exotisch anmutenden Registern wie „Nachthorn“, „Spitzflöte“ oder „Nasatquinte“ kann dieses Instrument in eine besondere, sehr intime Klangwelt eintauchen. Bei den Umbauten der Orgel in St. Dionys 1951 und 1964 blieb das Fernwerk unverändert und bewahrte damit sein besonderes Klangspektrum.

Die Reise zu diesem Kleinod ist ein kleines Abenteuer. Durch eine Tür auf der Orgelempore geht es hinter die Kulissen. „Bitte auf den Kopf und die Fußtritte achten“, warnt Schüssler. Zu Recht. Durchschreitet man den mit Dachbalken abgestützten Raum, machen es Bodenschwellen, massive Balkenkonstruktionen und Spinnweben dem Besucher nicht eben einfach, das Fernwerk heil zu erreichen. Vorbei geht es an einem mächtigen, um 1600 vom Baumeister Heinrich Schickhardt erbauten Glockenstuhl, der einst eine mächtige Glocke getragen hat. Dann führt eine Art Hühnerleiter steil nach oben in abenteuerliche Höhen, und nach einigen Mühen erreicht man das Ziel.

Kirchenmusikdirektor Uwe Schüssler gibt einen Einblick in das Fernwerk der Stadtkirchorgel. Foto: Rainer Kellmayer

Öffnet man die Türe zu einem mit Holzbrettern ausgekleideten Raum sieht man die akkurat aufgebauten Reihen der Orgelpfeifen. Auf der rechten Seite mächtige Röhren, die für den Bassgrund sorgen, gegenüber die Achtfußpfeifen mit aufgerollten Stimmlippen zum Intonieren der Tonhöhe und im Hintergrund, aufgereiht wie Zinnsoldaten, die für höchste Tonlagen zuständigen kleinen Pfeifen.

„Das Fernwerk ist eine eigene Orgel in der großen Orgel“, erklärt Uwe Schüssler. Zum Stimmen der Pfeifen werde eine eigene Tastatur benutzt. Beeindruckend dabei ist der besondere Farbenreichtum des Instruments: Über verschiedene Labial- und Lingualregister können mannigfache Klänge gemixt werden, von scharfen Trompetentönen, über Streicherklänge bis zu weichem Flötensound.

Auf dem Rückweg führt Uwe Schüssler in seine Schatzkammer. Neben der Orgelempore werden in einer kleinen Bibliothek handschriftlich notierte Chorsätze und Orgelwerke aufbewahrt, die in der Historie zurückreichen bis zu den frühesten Kantoren der Stadtkirche. Auf eine Ausgabe ist der Kirchenmusikdirektor besonders stolz: „Unsere Sammlung enthält eine originale Partitur-Abschrift aus dem Jahr 1750 von Georg Philipp Telemanns Passionsoratorium ‚Das Leiden und Sterben Jesu Christi‘ “.

 

Eine Orgel wird mit Händen und Füßen bespielt

Spieltisch Am Spieltisch der Orgel sitzend kann der Organist alle Mechanismen des Instruments zentral steuern: Er spielt die Tasten der Klaviatur und bedient mit den Füßen das Pedal. Zudem findet man hier die Schalter zur Einstellung der verschiedenen Register und Registerkoppeln. Auch die Schweller und verschiedene Elemente zur Kontrolle der Funktionen wie Winddruckanzeiger und Voltmeter sind am Spieltisch angebracht.

Orgelregister Ein Register ist eine über den gesamten Tonumfang reichende Reihe von Pfeifen gleicher Klangfarbe, die als Einheit eingeschaltet werden kann. Bei den meisten Registern klingt pro Taste genau eine Pfeife; sogenannte gemischte Stimmen bestehen hingegen aus mehreren Pfeifenreihen. Normalerweise ist jedes Register einer Klaviatur fest zugeordnet. Die Register werden durch Züge, oder durch Kippschalter aktiviert.

Schwellwerk Durch das Öffnen oder Schließen von eingebauten Holzjalousien kann im sogenannten Schwellkasten der Orgel die Lautstärke gesteuert werden. Damit sind feine dynamische Abstufungen wie Crescendo, also das anschwellende lauter werden, oder Decrescendo, also das kontinuierliche leiser werden, möglich. Der Regler des Schwellwerks befindet sich bei der Orgel oberhalb des Pedals und wird mit dem Fuß betätigt. kell