Ich bin eingeladen, um Ihnen vom nationalsozialistischen Terror zu erzählen“ – die Worte, die Ruth Michel-Rosenstock an den Beginn ihres Vortrags stellte, machen deutlich, wie schmal die zeitgeschichtliche Brücke zur NS-Zeit geworden ist. Denn es gibt nur noch wenige Zeitzeugen des Holocaust. Sie sei ebenfalls hier, um den Ermordeten eine Stimme zu geben. In der Weilheimer Realschule sprach sie vor 120 Schülern.
Schulleiter Robin Fehmer und Konrektor Andre Knaus freuten sich, auch Weilheims Bürgermeister Johannes Züfle zu diesem besonderen Anlass begrüßen zu dürfen. Die 95-jährige Zeitzeugin hatte ein Kapitel aus ihrem autobiografischen Buch „Die Flucht nach vorne“ mitgebracht. Darin schildert sie einen Massenmord, der sich 1941 in der heutigen Ukraine zutrug. Mit der Ernennung Hitlers zum Reichskanzler wurde das Leben in Königsberg für die Familie Rosenstock gefährlich. Deshalb siedelten sie 1935 nach Mykulytschyn zur Großmutter, die eine angesehene Bürgerin der jüdischen Gemeinde war. Der südlich von Lemberg (heute: Lwiw) gelegene Ort in den Waldkarpaten gehörte damals zu Polen, wurde 1939 von der Sowjetunion und im Juni 1941 von Deutschland besetzt: „Die Deutschen kamen und die Katastrophe für die Juden begann.“ Juden hatten fortan weiße Armbinden zu tragen. An ihren Häusern wurden die Fenster eingeworfen.
Doch inmitten aller Erniedrigung bestand für die junge Ruth noch Hoffnung. Auf beschwerlichen Gängen tauschte sie Lebensmittel ein und kümmerte sich um die Versorgung ihres Vaters, der in eine andere Stadt gezogen war, um die Familie zu schützen. Doch der 9. Dezember 1941 machte alles zunichte. Die Gestapo plünderte jüdische Häuser und nahm Verhaftungen vor. Auch Aaron Rosenstock, Ruths Vater, wurde verhaftet und mit mehr als 200 Juden zu einem Massengrab im Wald gebracht. Dort hatten sich die Opfer zu entkleiden und ihre Personalien anzugeben, bevor sie hingerichtet wurden.
Rückkehr an den Ort des Grauens
Im August 2010 ist Michel-Rosenstock wieder nach Mykulytschyn gereist. Der Ort des Massenmordes an den 205 Jüdinnen und Juden war inzwischen gekennzeichnet. Für ihren Vater ließ sie eine Gedenktafel aufstellen. In der anschließenden Diskussion wurde gefragt, ab wann ihr klar geworden sei, dass die Nationalsozialisten eine systematische Vernichtungsmaschinerie entfesselt hätten. Michel-Rosenstock berichtet von den großen Kleiderhaufen, die nach der Razzia auf der Straße lagen: „Da habe ich begriffen, dass es wahr sein muss, dass all diese Menschen ermordet wurden.“ Hass und Trauer habe sie damals gefühlt. Aber auch den Willen entwickelt, für die Opfer einzustehen: „Ich wollte für diejenigen da sein, die ermordet wurden.“ Dieser Aufgabe geht Ruth Michel-Rosenstock seit dem Erscheinen ihres Buches engagiert nach.
Erst nach dem Tod ihres Mannes begann sie, ihre Erinnerungen schriftlich niederzulegen. Um das Vergessen zu verhindern, wie sie sagt, denn „es hat niemanden interessiert, was mit den Juden passiert ist“. Die öffentlichen Vorträge versteht Michel-Rosenstock als ihren „persönlichen Kampf gegen Antisemitismus“. Stets sei sie davon ausgegangen, dass sich die Schrecken des Holocaust wiederholen könnten. Die Massaker der Terrororganisation Hamas an jüdischen Zivilisten vom Oktober 2023 sieht sie als Bestätigung: „Ich stelle mit Trauer fest, dass ich recht hatte“. Anhand ihrer persönlichen Geschichte wolle sie zeigen, wohin Antisemitismus, Ausgrenzung und Fremdenhass führten. In Zeiten, in denen menschenfeindliches Gedankengut verstärkt um sich greift, mahnen Zeitzeugen des Holocaust umso dringlicher.