Ein Besuch auf der ICE-Baustelle läuft immer nach dem gleichen Ritual ab: orange Weste überstreifen, in gelbe Sicherheitsgummistiefel schlüpfen und das Haupt mit einem Bauhelm krönen - Reihenfolge variabel handhabbar. Dieses Mal kommt was Neues dazu. Der vermeintliche Kaugummi-Automat, zu dem Katharina Kresse zielstrebig ihre Schritte lenkt, entpuppt sich als Ohrstöpsel-Spender. „Es wird nachher ziemlich laut“, sagt die Herrin über das nagelneue Betonwerk im Kirchheimer Gewerbegebiet Bohnau. Es liegt in unmittelbarer Nachbarschaft zur großen ICE-Tunnelbaustelle, nur die Autobahn trennt Produktionsort und Anlieferstelle. In der großen Halle - 172 Meter lang, 36 Meter breit und 13 Meter hoch - werden ausschließlich Tübbinge hergestellt. Sieben Stück müssen zusammengesetzt werden, damit ein komplettes Ring-Segment für die Tunnelröhre entsteht.
Katharina Kresse hat nicht zu viel versprochen. In der Halle herrscht ein ohrenbetäubender Lärm, wenn die Anlage auf vollen Touren läuft. „Das ist wie Kuchenbacken“, veranschaulicht die Ingenieurin den Prozess. Der Vergleich drängt sich auf, der Größenunterschied ist jedoch gewaltig. In einem Kübel wird der recht zähe Beton mithilfe eines Kran-Systems an Ort und Stelle „geflogen“. Der Apparat hält über der Öffnung der Form, in der ein passgenau geformtes Stahlgitter ruht. Von Hand - und mit viel Fingerspitzengefühl und einem guten Auge - öffnet ein Arbeiter den Trog, der so portionsweise die Form füllt. „Wir betonieren langsam“, sagt Katharina Kresse.
Für den unglaublichen Lärmpegel und das markante Brummen sorgt die Rüttelmaschine. Sie ist nötig, damit sich der Beton gleichmäßig, vor allem aber möglichst ohne Luftblasen verteilt. Der Boden bebt bei diesem Vorgang ohne Unterlass auf der Gitter-Brücke, auf der die Männer ihre Arbeit verrichten. Allein schon das Stehen auf diesem Boden verlangt eine gute Konstitution, der ganze Körper vibriert. „Alle Luft muss raus - und der Beton muss auch die letzte Ecke füllen“, erklärt Katharina Kresse den Vorgang. An der höchsten Stelle erhält der Tübbing in Handarbeit einen wohlgeformten Rücken, weil er für die Passform enorm wichtig ist. „Zum Abziehen des Rückens braucht es viel Erfahrung und Feingefühl“, sagt die Ingenieurin. Nicht mal sich selbst traut sie sich diese Tätigkeit zu. „Unser Beton ist relativ steif, was ihm eine höhere Festigkeit verleiht. Dadurch ist er wasserundurchlässig und schlagfest“, beschreibt Katharina Kresse ihren Werkstoff. Dank dieser Konsistenz zieht er schnell an und nach zehn Minuten kann der Deckel geöffnet werden. Pro Stein werden zweieinhalb Kubikmeter Beton „verbacken“.
Wie in der Backstube ist es kuschlig warm in der zweischiffigen Halle, ganz so, wie es der Beton mag. Unter jedem Stein sorgen Heizspiralen für die entsprechende Temperatur. Damit die Wärme gehalten werden kann, wird jeder einzelne Tübbing in eine Plane gepackt, die nach acht Stunden entfernt werden kann. Ins Freie wird der Tübbing erst nach 36 Stunden entlassen. Bei strengem Frost können es sogar fünf Tage sein, damit das sensible Stück keinen Schock bekommt. „Beton trocknet nicht, er härtet aus“, betont Katharina Kresse. Läuft das Werk in Vollproduktion, können bis zu 154 Einzelstücke pro Tag hergestellt werden.
Regelmäßig kommen zwei Männer mit Schubkarren angefahren und nehmen eine Probe, denn die Qualität muss stimmen. Die Mischung macht‘s. Vor der neu errichteten Halle stehen große Silos. Über Förderbänder gelangen Kies, Sand und Zement in die Mischanlage. Kies und Sand kommen aus der Region. „Da haben wir eine Synergie: Mit dem Aushubmaterial der Tunnel fahren die Lkw zu den Steinbrüchen und kommen mit Schotter wieder zurück“, so Katharina Kresse.
„Ganz normal“, sagt Katharina Kresse, hat sie an der TU München Bauingenieurwesen studiert und ihre Diplomarbeit geschrieben, wobei sie „ganz ursprünglich“ Architektur studieren wollte. Um einfach das Thema Tunnelbau für ewige Zeiten abhaken zu können, ging sie für sechs Monate nach Malaysia, um dort an einem großen Projekt mitzuarbeiten. „Dann hat mich aber das Tunnelbaufieber gepackt und das Schicksal nahm seinen Lauf - es hat mich nicht mehr losgelassen“, erzählt die Mutter zweier Töchter. Ihre Stationen waren unter anderem Wien, Hamburg oder Vancouver in Kanada.
An ihrem Job schätzt sie die tägliche Herausforderung. „Das ist ein spannendes Bauvorhaben“, sagt sie über den Tunnel zwischen Kirchheim und Wendlingen. Darauf angesprochen, als Frau in einer Männerdomäne das Sagen zu haben, erweckt in ihr nur einen fragenden Blick und die lapidare Aussage: „Es geht um Organisationstalent, und das ist geschlechtsunspezifisch.“ Dann fügt sie hinzu: „Technisches Verständnis braucht es natürlich.“ Sie wundert sich, dass sie eine „bisschen ein Exot“ ist, denn dafür sieht sie keinen Grund.