Zwischen Neckar und Alb
Eine Lobby für psychisch Kranke

Engagement Die Beschwerdestelle IBB übt Kritik an der Psychiatrie in Kirchheim. Corona steigere das Gefühl der ­psychisch kranken Menschen, „weggesperrt“ zu sein. Von Roland Kurz

Psychisch kranke Menschen haben keine Lobby.“ Diese Feststellung macht der Psychotherapeut Gerth Döring. Die Klinik sitze immer „am längeren Hebel“, wie er sagt. Als Patientenfürsprecher versucht Döring, über die IBB - die Informations-, Beratungs- & Beschwerdestelle - das Kräfteverhältnis in der psychiatrischen Versorgung etwas auszubalancieren. Sechs ehrenamtliche Fürsprecher kümmern sich im Kreis Esslingen um die Anliegen von Patienten und deren Angehörigen. Das Thema Fixierung ist dabei ein Dauerbrenner. Unter anderem sei die psychiatrische Abteilung der Medius-Kliniken hier nicht gut aufgestellt, kritisiert Döring. Die Kirchheimer Klinik setze keine alternativen Methoden zur Deeskalation von Konflikten ein.

Schon 1996 wurde im Kreis Esslingen eine Beschwerdestelle für psychisch kranke Menschen und ihre Angehörigen eingerichtet. Als 2015 in Baden-Württemberg eine Informations-, Beratungs- und Beschwerdestelle (IBB) vorgeschrieben wurde, wandelte man die Beschwerdestelle in eine IBB um. Sechs ehrenamtliche Mitarbeiter arbeiten hier. Im vergangenen Jahr nahm die IBB Kreis Esslingen 228 Anfragen von Klienten entgegen, 59 Kontakte hat Döring als „Beschwerden“ eingeordnet, die übrigen als Beratungen und Informationen. Die Zahl der Erstkontakte, es waren 42, sei im Corona-Jahr etwas gesunken, fasst Döring zusammen, aber „gefühlt“ habe die IBB mehr gearbeitet. Zählt er die Gespräche mit Kollegen und die Besuche in Einrichtungen dazu, kam die IBB 2020 auf mehr als 500 Vorgänge.

Die Kontaktbeschränkungen hätten das Gefühl des Weggesperrtseins bei manchen Patien­ten verstärkt, berichtet Döring. Das bestätigt Dieter Kress, der als Patientenfürsprecher im Chris­tophsbad Göppingen tätig ist, wo auch viele Patienten aus dem Kreis Esslingen behandelt werden. Die Patienten fühlten sich abgeschnitten, fast täglich befasse er sich mit Besuchsproblemen. Derzeit versuche man, so Döring, mit der Kirchheimer Psychiatrie die technischen Voraussetzungen für Video-Konferenzen mit Angehörigen, Freunden und der IBB zu schaffen.

Die Fürsprecher verstehen sich als „Vermittler“ zwischen Betroffenen und den psychiatrischen Einrichtungen. Gleichwohl sprechen sie Defizite deutlich aus. Fixierung und Zwangsmedikation seien in vielen deutschen Kliniken immer noch das Mittel der Wahl, kritisiert Döring. Statt Fixierung empfehle die Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN) die vierstufige Festhalte-Methode. Dieses Deeskalationsmanagement setzt voraus, dass die Einrichtung systematisch versucht, die Auslöser von Krisen zu vermeiden. Es geht darum, Verständnis für die inneren Nöte eines Patienten zu zeigen und den Mitarbeitern Deeskalationstechniken beizubringen inklusive der notwendigen Handgriffe. Knackpunkt ist die Personalsituation. Ein psychisch kranker Mensch entwickle in einer Krise große Kräfte, erklärt Döring. Um die Haltetechnik anzuwenden, seien drei bis fünf Pflegekräfte notwendig, die als Team agieren. Christian Jakob, der Chefarzt an der Kirchheimer Medius-Klinik, lässt Dörings Kritik so nicht gelten. Das Klinik-Personal werde regelmäßig geschult, um in aggressionsbeladenen Situationen richtig zu reagieren.

Mix aus acht Medikamenten

Häufiges Thema der Beschwerden ist auch die Medikation. Ein Patient aus dem Kreis habe in einer Einrichtung acht starke Mittel erhalten, berichtet Döring. Der Fürsprecher fragt dann nach, welchen Sinn das mache, und nehme Kontakt zur Krankenkasse auf. Die Macht der Ärzte empfindet Döring als stark. Angehörige bräuchten „viel Energie“, um eine Verlegung in eine andere Klinik zu erreichen oder gegen einen Beschluss des Amtsgerichts Beschwerde einzulegen. Obwohl die IBB im Lauf der Jahre bekannter geworden sei, sei die Beschwerdestelle noch immer vielen Patienten und Angehörigen unbekannt. Döring ist seit mehr als zwei Jahrzehnten ehrenamtlicher Fürsprecher. Seiner Meinung nach sollte eine IBB auch mit hauptamtlichen Profis besetzt werden. Das sei notwendig, um bei einem Fall „am Ball bleiben“ zu können. Derzeit führe die Landesarbeitsgemeinschaft der IBB Gespräche mit dem Sozialministerium. Sie fordert nach fünf Jahren IBB eine Evaluation des Systems.