Auferstanden aus Ruinen – das gilt ein bisschen auch für die Wendlinger Johanneskirche. Im Jahr 2020 wurde die Kirche abgebrochen, aber ein wichtiger Teil dieser Kirche, ihre Orgel, bekommt jetzt ein neues Leben – in Jordanien. Klingt ungewöhnlich, und ist es auch. Denn da werden viele historische Linien aus der Region wieder zusammengefügt.
Das mit den Ruinen ist gar nicht so weit hergeholt. Denn nach dem Kirchenabriss wurde die Orgel in eine ehemalige Wendlinger Turnhalle eingelagert. Es ist schon ein bisschen eine morbide Rumpelkammer, dieser Ort. Gerhard Walcker-Mayer und seinen Sohn Alexander hat schier der Schlag getroffen, als sie im Frühjahr das erste Mal in die Halle kamen. Denn die beiden Männer stammen aus einer bedeutenden schwäbischen Orgelbau-Dynastie: 1780 hat Johann Eberhard Walcker eine Werkstatt in Cannstatt gegründet, 1820 wurde sie nach Ludwigsburg verlegt.
Die Walckers waren Hof-Orgelbaumeister in Württemberg, Lieferanten des Vatikans und gehörten zu den renommiertesten Orgelbau-Unternehmen weltweit – mehr als 5500 Orgeln sind in ihren Werkstätten entstanden. Die großen Zeiten sind vorbei, der Ludwigsburger Firmensitz wurde 1974 aufgegeben, es gibt noch eine Manufaktur in Österreich und den Betrieb von Gerhard Walcker-Mayer, der sich mit einer Werkstatt in Saarbrücken auf die Restaurierung von Orgeln spezialisiert hat. Weltweit ist er in dieser Mission mit seinem Sohn unterwegs, in Australien, Ägypten oder auf dem amerikanischen Kontinent.
Die Wendlinger Orgel hat auch Walcker-Bezüge. Das ehemalige Echterdinger Orgelbau-Unternehmen Weigle hat sie im Jahr 1968 gefertigt, ein Betrieb, den Carl Gottlieb Weigle gegründet hatte. Er war eingeheiratet in die Walcker-Familie, hatte lang im Betrieb mitgearbeitet und sich 1845 selbstständig gemacht. Zudem war die Wendlinger Orgel von Helmut Bornefeld konzipiert worden, einem Kirchenmusiker und Orgelsachverständigen, mit dem Gerhard Walcker-Mayer schon zusammengearbeitet hatte.
Kompliziertes Puzzle
Alle diese persönlichen Erinnerungen halfen aber erst mal nicht gegen die unguten Gefühle, die Vater und Sohn in der Wendlinger Halle hatten. Da lag die Orgel wie ein riesiges Puzzle in ihre Einzelteile zerlegt, oft ungeschützt – und vor allem ohne Aufzeichnungen, wie alles zusammengehört. „Schlimmer als bei Ikea“, seufzte Alexander Walcker-Mayer. Das machte die Aufgabe der beiden Walckers nicht einfacher: Sie sollten die Orgel wieder aufbauen – in Russeifa, einer Stadt in der Metropolregion um die jordanische Hauptstadt Amman.
Klingt exotisch, aber eigentlich ist eine Weigle-Orgel dort sehr konsequent – wenn man in die Geschichte guckt. Die beginnt mit dem schwäbischen Missionar Johann Schneller, der 1860 in Jerusalem ein Waisenhaus gründet, das sich zu einem großen diakonischen Komplex entwickelte. Im Jahr 1898 bekam es seine erste Orgel – ein Instrument der Firma Weigle. Nach einem Brand wurde wieder eine Weigle-Orgel eingebaut, sie war die größte im Nahen Osten. Sie wurde abgebaut, als der neue Staat Israel den Komplex des 1940 geschlossenen Waisenhauses übernahm, und war im Laufe der Zeit verschollen. Das Schneller’sche Werk setzten seine Nachfahren mit Schulen im Libanon und Jordanien fort. Dort, in Russeifa, hätte Hermann Schneller in den 1950er-Jahren gerne aus den Resten der Jerusalemer Orgel eine neue gebaut – aber das ging nicht mehr. Und für einen Orgelkauf war kein Geld da.
Aber der Bedarf ist geblieben, mehr denn je, wenn man auf die Theodor-Schneller-Schule guckt. Dort besuchen rund 250 Kinder aller Konfessionen den Kindergarten, die Schule oder das Internat und können vielfältige Ausbildungen machen, vom Hotelgewerbe bis zur Kfz-Elektrik. Es sind oft Kinder aus armen und schwierigen Verhältnissen. Die Pädagogik hat deshalb auch einen ganzheitlichen Ansatz – und dazu gehört die Musik. Zumal die Schule eine „total begnadete Musiklehrerin hat“, wie Uwe Gräbe sagt, der Nahost-Referent der Evangelischen Mission in Solidarität (EMS), die die Schneller-Schulen betreibt.
Qamar Badwan, eine professionelle Sängerin, hat in kurzer Zeit die Musik entscheidend nach vorne gebracht und tritt zum Beispiel mit dem Schulchor auf. „Die Kinder sind total aufgeblüht“, beobachtet Uwe Gräbe. „Sie merken: Uns hört auch jemand zu.“ Diesen Elan soll der Ausbau des Musiksaales fördern – und da hat sich jetzt die Chance auf eine Orgel aufgetan. Sogar auf eine Weigle-Orgel. Manchmal hilft auch der Zufall. Wendlingens Pfarrer Paul-Bernhard Elwert, der jung im Amt gleich eine Kirche schließen musste, saß auf einer Vollversammlung der EMS vom Alphabet her neben Chaled Freij – dem Direktor der Schule. Und so kamen sie ins Gespräch: Der eine hatte ein Instrument eingelagert, das niemand kaufen wollte, der andere hatte Bedarf – und so bildete sich eine gemeinsame Idee.
Es gab eine Blaupause
Normalerweise platzen solche Vorstellungen schnell am Realitätscheck. In diesem Fall aber gab es eine Blaupause: Im Jahr 2017 hatte die Schneller-Schule im Libanon schon eine Orgel aus Europa erhalten – im schottischen Elgin war eine für Selbstabholer zu verschenken. Den Transport hatte Klaus Schulten organisiert. Er war lange Bezirkskantor in Württemberg und später Organist unter anderem in Jerusalem. Für den Transfer aus Schottland hatte er Gerhard und Alexander Walcker-Mayer engagiert.
In Wendlingen fertigte Gerhard Walcker-Mayer nach Fotos einen Plan der Orgel, dann verpackten Vater und Sohn alles in einem Container. Die Logistik war streng getaktet: Abtransport nach Bremerhaven, dann aufs Schiff, durch den Suezkanal und um den Sinai herum nach Akaba. Dort war der Zeitplan dann aber schnell Makulatur. Zwei Wochen lang warteten die Walckers auf den Transport ins Land – der jordanische Spediteur wollte mehr Geld. Und vor Ort brauchten sie einen Starkstromelektriker und merkten: „Die haben andere Zeitfenster. Ob zwei oder fünf Wochen, das ist wurst.“
Vor allem aber: Würden die zusammengefügten Teile auch wieder funktionieren? „Das hat mir schon schlaflose Nächte bereitet“, sagt Gerhard Walcker-Mayer. Und die Tage schlauchten auch. 52 Grad war die Außentemperatur, in der schattigen Kirche kletterte das Thermometer immerhin auch noch auf 37 Grad. „Das haut einen um“, sagt der 73-jährige Gerhard Walcker-Mayer. „Da kann man keine acht Stunden arbeiten. Da flüchtet man immer wieder ins Zimmer mit der Klimaanlage.“ Dabei gab es genug zu tun. Holzpfeifen waren teilweise gerissen, Bälge kaputt. Elektronikteile fehlten. „Bei uns hast du das in drei Tagen. Aber dorthin funktioniert nicht einmal der Internetversand. Für die westliche Welt liegt dieses Land hinter einer Grenze.“
Und dann ist die Orgel 8,70 Meter hoch. Die beiden Orgelbauer hatten deshalb einen Hubsteiger angefordert – vergeblich. Auf ihrem Weg zum Supermarkt aber waren die Walckers an einem Transportgeschäft vorbeigekommen. Dort hing ein Plakat an einem Hubsteiger. Den liehen sich die beiden aus: „Ein altertümliches Ding – aber es hat seinen Dienst getan.“ So nahm die Orgel Gestalt an. Drei Zentimeter mussten oben noch abgesägt werden, damit sie genau unter die Decke passte. Was beim Aufbau half: dass die Schneller-Schule Handwerker ausbildet. „Das sind gute Leute, mit denen konnte man hervorragend zusammenarbeiten.“ Begeistert hat Gerhard Walcker-Mayer auch die Materialqualität, die seine Orgelbau-Kollegen eingesetzt hatten: „Das Gehäuse ist aus gutem Holz fantastisch gemacht. Das war ein guter Orgelbauer, der das konstruiert hat.“
Dann kam der spannende Moment, als das erste Manual eingebaut wurde und die Winde angeschlossen wurden – und die Orgel tönte wieder. „Das war das Allerwichtigste, dass die wieder klingt.“ Und Gerhard Walcker-Mayer konnte durchatmen: „Ich hatte große Bammel vor diesem Projekt“, gibt er offen zu. „Deshalb war das jetzt eine Befriedigung, wie ich sie ganz selten hatte.“ Die Orgel ist in Jordanien auf die musikalischen Bedürfnisse vor Ort eingestellt: „Für Choräle ist die Orgel ganz fantastisch. Dafür ist sie ja auch da: nicht für Konzerte, sondern für Gottesdienste.“