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Es braucht wieder mehr „wir“ statt „ich“

Zusammenleben Wie ist es um den Gemeinsinn bestellt? Dieser Frage ging eine Gesprächsrunde mit Kulturhistorikerin Christel Köhle-Hezinger nach. Von Katja Eisenhardt

Was hält uns zusammen?“ Eine Frage, aktueller denn je in so vielen Bereichen des Alltags. Angefangen bei Vereinen, den Kirchen oder Parteien – überall gehen Mitglieder verloren, weil sie sich nicht mehr mit ihrer bisherigen Aufgabe oder Organisation identifizieren oder andere Prioritäten im Alltag setzen.

Für gemeinschaftliche Aufgaben finden sich zudem immer schwieriger Akteure. Es brauche Ideen, diesem Trend entgegenzuwirken, so Kulturhistorikerin Prof. Christel Köhle-Hezinger. Im Rahmen des gemeinsamen Jubiläums des Landkreises Esslingen und der Kreissparkasse Esslingen-Nürtingen fand im Freilichtmuseum Beuren jetzt eine Gesprächsrunde zu den Veränderungen des Alltagslebens und der sozialen Beziehungen statt. Als ursprünglich zweite beteiligte Kulturwissenschaftlerin fiel dabei Dr. Petra Naumann laut ihrer Kollegin wegen eines Hexenschusses kurzfristig aus.

 

Was früher das Landschlössle oder die ertragreichen Äcker waren, ist heute der Porsche.
Christel Köhle-Hezinger
 

Wie steht es grundsätzlich um die gemeinsame Zukunft im Landkreis, so die zentrale Frage der Runde? Wie um den Gemeinschaftssinn und die Identifikation der Menschen mit ihrem Lebensumfeld im Allgemeinen und ihrem Engagement? Der damit verbundene, sichtbare kulturgeschichtliche Wandel verbinde stets die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, erläuterte Christel Köhle-Hezinger und blickte daher mit den 15 Teilnehmenden zunächst auf die Entwicklung der vergangenen drei Jahrhunderte. Im 18. Jahrhundert seien etwa Grund und Boden die wahren Statussymbole der Bürger gewesen: „Was früher das Landschlössle und ertragreiche Äcker waren, ist heute der Porsche“, so die Volkskundlerin. Eine Gemeinde funktioniere im Prinzip seit dem Mittelalter als eine Art Genossenschaft: „Nur wenn man miteinander wirtschaftet, funktioniert das System.“

Im Feudalismus waren Pflichten und Rechte der unterschiedlichen Gesellschaftsgruppen genau geregelt. Im Zeitalter der Aufklärung im 18. Jahrhundert verlor der Feudalismus allerdings bereits an Bedeutung und fand im 19. Jahrhundert endgültig ein Ende.

Private Konkurse nahmen zu, es begann das System der Kreditwirtschaft: „Die Dorfstruktur veränderte sich, es gab neue Gesetze und eine bürgerliche Gleichheit“, schilderte die Volkskundlerin einen zentralen Punkt des gesellschaftlichen Wandels, der mit neuen Freiheiten des Einzelnen verbunden war. Man konnte etwa wohnen, wo man wollte, heiraten, wen man wollte, alte Bindungen wurden gelöst. Die Flurbereinigung bewirkte eine Neuverteilung der vormals gemeinsam genutzten landwirtschaftlichen Flächen und veränderte das Landschaftsbild grundlegend durch die Abschaffung der vorherigen Dreifelderwirtschaft. Wer bekam wie viel Land? Und wie gut waren die Äcker beschaffen? Das waren zentrale Fragenstellungen unserer Vorfahren. „Die Verteilung war nie gerecht. Das nahm im 20. Jahrhundert mit den Zwangsflurbereinigungen noch zu“, so Christel Köhle-Hezinger. Eine Entwicklung, die die Menschen prägte, lag doch eine „uralte archaische Bindung zum Boden und dem damit verbundenen Besitz vor.“

Es gibt viele Parallelen

In der regen Diskussion wurde über die aktuellen gesellschaftlichen Parallelen gesprochen. So entwickle sich ein Dorf auch heute nur dann gut, wenn man sich gemeinschaftlich dafür einbringe. War dieser Gemeinsinn der Menschen in ihrem Ort früher noch selbstverständlich, so falle es heute zunehmend schwerer, genug engagierte Mitstreiter zu finden. Sstatt der Gemeinschaft werde häufig das eigene Wohl über alles gestellt. Die Individualisierung sei allerdings nicht nur negativ zu sehen, befand die Diskussionsrunde. Sie habe auch neue Freiheiten und die Möglichkeit der Selbstbestimmung mit sich gebracht, etwa für die Frauen, was früher undenkbar gewesen wären. Positive Entwicklungen in der Gemeinschaft seien zudem in Wohnformen wie Mehrgenerationenhäusern oder den aktuellen Quartiersentwicklungen zu sehen.

Dennoch seien auch gegenläufige Trends an der Tagesordnung wie der Verlust der Identifikation mit dem eigenen Lebensumfeld und somit oft der Motivation, sich für dieses aktiv einzusetzen in einer Gesellschaft der absoluten Freiheiten und totalen Selbstbestimmung. Ein Kollege habe in einem Buch über seine eigene Familiengeschichte davon berichtet, dass sich unter den elf Geschwistern niemand fand, der den familieneigenen Hof übernehmen wollte, nannte Christel Köhle-Hezinger ein Beispiel für den Wandel. „Früher wäre das so undenkbar gewesen.“ Dasselbe Problem zeige sich beim zunehmenden Ladensterben, in der Gastronomie oder im Handwerk, wenn keine Nachfolger für die Betriebe gefunden würden, ergänzte die Runde.

Diskussion ist ein Anfang

Trotz aller Individualität sei gleichzeitig aber auch ein Wunsch nach Heimat und Fürsorge zu beobachten. Das Problem sei, genug Mitstreiter für gemeinschaftliche Projekte oder auch ein ehrenamtliches Engagement zu finden, berichteten manche aus der eigenen Erfahrung. Eine zentrale Frage der gesellschaftlichen Diskussion dürfe nicht sein, was einem selbst zustehe, sondern vielmehr, was man selbst bereit sei, an eigenen Fähigkeiten und Ideen für die Gemeinschaft einzubringen. Sich wie in früheren Zeiten als Teil des Ganzen zu begreifen.

Wie ein solch gesellschaftlicher Wandel zugunsten des Gemeinsinns in größerem Maße als bisher vorhanden umsetzbar sei, sei nicht so einfach zu beantworten, so das Resümee. Das Diskutieren darüber sei aber ein Anfang.