Weilheim und Umgebung
Fünf Monate zu Fuß durch die USA

Wanderweg Die Weilheimerin Maren Wahle hat das Outdoor-Leben für sich entdeckt – als sie 3 500 Kilometer auf dem „Appalachian Trail“ unterwegs war. Von Andreas Volz

Maren Wahle ist eine „Wanderin zwischen zwei Welten“ – seit ihre Eltern erstmals berufsbedingt von Weilheim in die USA gezogen waren. Das Wandern im wörtlichen Sinn hat sich aber erst später ergeben. Mitten in der Corona-Zeit hat die End-Zwanzigerin, die in Kirchheim ihr Abitur gemacht hat, einen Traum verwirklicht: Sie hat die rund 3 500 Kilometer des „Appalachian Trail“ an einem Stück absolviert. Gut fünf Monate war sie unterwegs.

Als sie das erste Mal auf den Fernwanderweg gestoßen ist, war sie „noch nicht so der Outdoor-Mensch“. Trotzdem war Maren Wahle im Lauf der Zeit immer stärker fasziniert von der Idee, sich eine Auszeit zu nehmen „und alles, was ich
 

Du zweifelst grundsätzlich am Sinn des Ganzen.
Maren Wahle
über die tägliche Notwendigkeit, den inneren Schweinhund zu überwinden

brauche, auf dem Rücken mit mir rumzutragen“. Nicht alle waren in gleicher Weise begeistert: „Meine Mutter hatte gerade ein Buch darüber gelesen, und sie fand das völlig bekloppt.“ Schließlich ist die Überzeugungsarbeit aber doch gelungen: „Bedingung war, dass wir per Satellit kommunizieren können und dass meine GPS-Daten übermittelt werden.“

Schließlich haben die Eltern sogar für die „Starthilfe“ gesorgt: „Sie haben mich nach Georgia runtergefahren, damit ich nicht fliegen musste.“ Auf der Eingewöhnungsetappe – noch vor dem eigentlichen Start am Springer Mountain nördlich von Atlanta – wurde Maren Wahle Ende April letzten Jahres von ihrer Schwester Svenja begleitet. Allein drei Mal haben ihre Eltern neue Schuhe geschickt. Zwischen 470 und 684 Meilen lag die „Reichweite“ eines einzelnen Paars. Auf der Hälfte der Strecke reisten die Eltern noch einmal mit dem Wohnwagen an. „Da haben sie mich und meine Mit-Hiker ein paar Tage lang durchgefüttert.“

Was hat die meisten Kalorien?

Stichwort „Durchfüttern“: „Auf dem Trail kommt man durch 14 US-Bundesstaaten, von Georgia bis Maine. Ab dem Staat New York konnte ich kaum mehr genug essen, um den Kalorienverlust auszugleichen.“ Im Supermarkt schauen die Wanderer also sehr genau auf die Kalorienangaben: Was kaum welche hat, bleibt im Regal, was viele hat, kommt in den Einkaufswagen. Außerdem sollten Lebensmittel auch möglichst wenig wiegen, und sie sollten ohne Kühlschrank möglichst lange halten.

Chips und Schokoriegel waren beliebte Bestandteile dieses besonderen Diätplans: „Ich habe mich ernährt, wie jeder Grundschüler es am liebsten tun würde.“ Das galt auch für den Fleischkonsum: „Normalerweise esse ich hauptsächlich vegetarisch. Aber da draußen war mir das egal. Irgendwo müssen die Proteine ja herkommen.“ Zum Gewicht der Lebensmittel macht Maren Wahle eine einfache Rechnung auf: „100 Gramm Erdnussbutter haben elf Mal so viele Kalorien wie 100 Gramm Äpfel. Also trägt man lieber eine Packung Erdnussbutter als einen ganzen Sack Äpfel.“

Mit „man“ bezeichnet die begeisterte Wanderin nicht nur sich selbst, sondern auch alle anderen Hiker. Manche laufen nur einzelne Etappen. Rund 3 000 Menschen planen jedes Jahr einen „Thru Hike“, wollen also den kompletten Appalachian Trail in Angriff nehmen, ob von Süden nach Norden oder umgekehrt. „Etwa ein Viertel schafft es“, konstatiert Maren Wahle. Dass sie selbst zur Gruppe der „Thru Hikers“ zählt, liegt unter anderem an ihren Mitwanderern. Gleich in der ersten Woche hat sie drei Jungs getroffen, mit denen sie fortan im gleichen Tempo unterwegs war. Nach einem Viertel der Strecke stieß ein weiteres Mitglied zur „Tramily“, also zur Trail-Familie. Als Quintett sind sie am 2. Oktober am nördlichen Endpunkt des Trails angekommen.

Recht schnell finden die Mitwanderer für den einzelnen Hiker einen Spitznamen, der auf der Tour zur neuen Identität wird. Maren Wahle hieß „Wizard“, was „Zauberer“ oder „Hexenmeister“ bedeutet. Es schwingt aber auch der „Meister“ im Sinne von „Lehrmeister“ mit. „Verdient“ hat sie sich den Namen, indem sie jeden Tag etwas „unterrichtet“ hat, was sie irgendwann einmal selbst aufgeschnappt hatte – sei es während ihrer Mode-Design-Ausbildung oder während ihres Anglistik- und Germanistik-Studiums in Stuttgart. Ihr großes „abseitiges“ Wissen, das bei jedem Quiz von enormer Bedeutung sein kann, hat sie also zum „Wizard“ gemacht.

„Irgendwas tut immer weh“

Der Trail bringt die Hiker regelmäßig an ihre Belastungsgrenzen. Maren Wahle will das keinesfalls verschweigen: „Andauernd stellst du dir die Frage nach dem Warum. Du zweifelst grundsätzlich am Sinn des Ganzen.“ Nur drei Dinge seien unterwegs wirklich wichtig: die Tagesstrecke, die Entfernung zur nächsten Einkaufsmöglichkeit und das Wetter. Lästig sind die Reaktionen des Körpers. Blasen an den Füßen sind völlig normal. Aber die Schmerzen reichen ohnehin von Kopf bis Fuß. „Irgendwas tut immer weh – das rechte Knie, die linke Schulter, am Tag darauf der untere Rücken.“

Der absolute Tiefpunkt kam kurz vor Ende der Tour. Sechs Tage lang geht es durch „100 Meilen Wildnis“. Auf dieser Teilstrecke war Maren Wahles Rucksack am schwersten: 14,5 Kilogramm. Ohne Essen und Trinken kam sie mit ihrer kompletten Ausrüstung auf 7,5 Kilogramm. In dieser Wildnis trat der Bach, an dessen Ufer die „Tramily“ ihre Zelte aufgeschlagen hatte, über die Ufer. In stockdunkler Nacht rafften alle ihre Sachen zusammen und weckten einen Bekannten, der in sicherer Entfernung in seinem Auto übernachtete und sie in ein überbelegtes Hostel chauffierte.

„Engel“ am Wegesrand

Diese Begegnungen sind es, die die Warum-Frage beantworten: Immer wieder ist Maren Wahle Leuten begegnet, die ihr und ihrer Gruppe weitergeholfen haben. Ob jemand Obst verteilt, eine Fahrt in die nächste Stadt anbietet oder auf einem Parkplatz einen Grill aufbaut. Solche „Engel“ am Wegesrand haben den Trail oft selbst als Hiker erlebt. Weitere Helfer halten die Wege instand: „Diejenigen, denen der Trail am Herzen liegt, halten ihn am Leben.“

Was verbindet Maren Wahle nun selbst mit dem Appalachian Trail? Immer wieder gibt es zur Belohnung grandiose Ausblicke auf atemberaubende Landschaften, sagt sie. Das ist aber auch bei anderen Fernwanderwegen der Fall. Und deswegen will sie nächstes Jahr den „Pacific Crest Trail“ unter ihre Wanderschuhe nehmen. Danach bleibt von den drei großen Strecken in den USA noch die in der Mitte – der „Continental Divide Trail“. Und dann? Die Ideen gehen ihr nicht aus: „In Neuseeland gibt es auch einen tollen Fernwanderweg.“ Sie dürfte also eine Wanderin zwischen zwei Welten bleiben – zwischen der Welt des Arbeits- und der des Tourenalltags. „Egal, wie schlimm es zwischendurch war, eins war mir immer klar: Nirgendwo sonst würdest du in dem Augenblick lieber sein.“

 

Fakten zu Weg, Budget und Alltag auf dem Trail

3 500 Kilometer lang ist der Appalachian Trail. Auf dieselbe Summe käme ungefähr, wer die Strecke von Füssen bis Flensburg – also durch ganz Deutschland von Süd nach Nord – vier Mal abwandert. Die andere Zahl gibt die Höhenmeter an: knapp 157 000. Je nach Berechnungsart bemerkt Maren Wahle dazu: „Das sind 20 Aufstiege auf den Mount Everest.“

Knapp 3 000 Euro hat Maren Wahle für ihre Ausrüstung hingeblättert. Essen und Unterkunft (wenn man einmal nicht im Zelt übernachten will) sind die größten Kostenfaktoren. Maren Wahle hatte sich ein Limit von 1 000 Dollar im Monat vorgegeben. Die Überschreitung lag bei 0,6 Prozent: Im Schnitt hat sie pro Monat 1 006 Dollar gebraucht. Der Umrechnungskurs war im vergangenen Jahr günstiger, sodass die Gesamtrechnung – Ausrüstung und „laufende“ Kosten – etwas weniger als 7 800 Euro ausweist.

Der Tag auf der Tour beginnt gegen 4 Uhr morgens – mit Frühstücken und Packen. Abends ein ähnliches Ritual: Lager aufschlagen, Wasser filtern, essen. Gegen 21 Uhr ist Schlafenszeit. Im Herbst ging Maren Wahle erst später am Morgen auf Tour: weil es um 4 Uhr noch zu kalt und zu dunkel gewesen wäre.

Am Ziel: Nach beinahe 160 Tagen den Mount Katahdin zu erreichen – Maren Wahle beschreibt das als „eine Lawine an Emotionen“. Freude, Erleichterung, Glück, Stolz stehen auf der einen Seite. Auf der anderen Seite reift schlagartig die Erkenntnis, dass es das Ende ist. Das Ende dessen, was einen Tag für Tag angetrieben und auf Kurs gehalten hat. Rückblickend zeigt sich dann: Nicht der Endpunkt, sondern der Weg ist das Ziel.   vol