Blumen und Kerzen liegen auf dem Bürgersteig in der Bahnhofstraße, nur wenige Meter entfernt von der Stelle, an der am Sonntag zwei junge Frauen von einem Auto erfasst und getötet wurden. Ein 16-Jähriger wurde verletzt, genauso wie der Fahrer. Ein kleiner Junge im Deutschland-Trikot, vielleicht elf oder zwölf Jahre alt, bleibt vor den Blumen stehen, legt seine Hände zusammen und hält kurz inne. Immer wieder machen Passanten halt, lesen die Beileidsbekundungen, die in unterschiedlichen Sprachen verfasst wurden. „Wir sind in Gedanken bei den Angehörigen“ ist dort unter anderem zu lesen. „Wir haben heute erst aus der Zeitung und dem Radio davon erfahren“, sagt ein älterer Mann. „Es ist einfach furchtbar“, ergänzt seine Frau.
Die Ampel an der Kreuzung Europastraße/Bahnhofstraße funktioniert noch immer nicht, von dem Stromkasten und der Telefonzelle an der Ecke ist nicht mehr viel übrig. Eine Bremsspur zieht sich über den Bürgersteig und endet direkt vor einer Gaststätte. Vor dem Eingang ist der weiße Mercedes-SUV zum Stehen gekommen. Zum Unfallzeitpunkt hatte die Kneipe offen. Auch am Montagvormittag sitzen wieder zahlreiche Gäste an der Theke. Sprechen möchte niemand darüber, was gestern geschehen ist. „Ich war mit zwei Gästen hier“, sagt die Chefin. „Aber ich bin nicht in der Lage, darüber zu sprechen“, sagt sie und winkt ab.
Aus bislang ungeklärter Ursache hat ein 54-Jähriger am Sonntagabend die Kontrolle über sein Fahrzeug verloren. Die 28- und 27-jährigen Frauen, die an der Ampel standen, sind ihren Verletzungen erlegen.
Mit sechs Fahrzeugen und 25 Einsatzkräften rückte die Feuerwehr an. „Wir sind von einer im Fahrzeug eingeklemmten Person ausgegangen“, sagt Stadtbrandmeister Ralf Bader. „Es war gar nicht vorstellbar, dass sich in der Bahnhofstraße ein so großer Unfall ereignen kann.“ Am Unfallort sei man dann überrascht gewesen, dass keine Person im Auto eingeklemmt war. „Der Fahrer saß schon neben dem Auto“, so Bader. Da eine technische Rettung nicht mehr nötig war, sei die Feuerwehr vor allem damit beschäftigt gewesen, für einen Sichtschutz während der Behandlung der Verletzten zu sorgen.
Azubis waren die Ersten vor Ort
„Es ist einer von den Unfällen, die man nicht vergisst“, sagt Michael Wucherer. Als Rettungsdienstleiter des DRK Esslingen-Nürtingen gehörte er zu den zahlreichen Helfern vor Ort. „Die Ersten am Unfallort waren aber zwei unserer Azubis, die zufällig dort waren.“ Am Tag nach dem Unfall stehen sie noch unter Schock. Wucherer selbst habe in 38 Jahren Dienstzeit viel gesehen.
Der Unfall am Sonntag sei ein besonders tragischer Fall. Zahlreiche Menschen waren zum Zeitpunkt der Kollision an der belebten Ecke unterwegs. „Da standen ja 200 Passanten drumherum“, sagt Michael Leich, Organisationsleiter der Rettungskräfte im Kreis Esslingen. Bei der ersten Alarmierung habe es geheißen, dass ein Auto in eine Wand gefahren sei. „Auf der Anfahrt haben wir dann erfahren, dass drei Personen verletzt sind.“ Zwei Passanten hätten Erste Hilfe geleistet, dazu drei Rettungskräfte, die zufällig vor Ort waren. „Als wir ankamen, sah es aus wie auf einem Schlachtfeld. Das sind Bilder, die gehen einem noch lange nach“, sagt Leich. Sofort sei klar gewesen, dass eine der Frauen nicht mehr lebt. „Dann ging es darum, die anderen verletzten Personen zu versorgen.“ Vor Ort wurde die zweite junge Frau reanimiert, die jedoch später in der Klinik verstarb.
Trotz der zahlreichen Schaulustigen habe niemand den Einsatz behindert. „Was jedoch immer passiert, ist, dass die Leute Videos und Fotos machen.“ Vorbildlich habe sich der Busfahrer der Linie 167 verhalten. Instinktiv habe er mit seinem Bus die Europastraße versperrt und für einen Sichtschutz gesorgt. „Außerdem hat er sofort angeboten, dass wir Betroffene in seinem Bus behandeln können.
Busfahrer nimmt Schaulustigen die Sicht
Der Busfahrer war Markus Casamassa, Angestellter des Busunternehmens Melchinger aus Neckartailfingen. „Ich hatte am Sonntag eigentlich meinen letzten Arbeitstag, weil ich demnächst Lkw fahre.“ Als er sich mit dem 167er am Sonntag der Kreuzung am Bahnhof nähert, sieht er schon von Weitem die Polizei. „Der Unfall war da schon geschehen. Überall standen Menschen und haben mit ihren Handys gefilmt. Das geht für mich gar nicht.“ Deshalb habe er entschieden, mit seinem Bus die Sicht zu versperren. „Ich habe die Polizei gefragt, ob ich das machen soll. Sie haben natürlich Ja gesagt.“ In seinem Fahrzeug wurden dann Augenzeugen und Ersthelfer von der Psychosozialen Notversorgung (PSNV) betreut.
„Ein Gefühl der Ohnmacht“
Der PSNV-Leiter für den Kreis Esslingen, Markus Schwab, war kurz nach dem Unfall vor Ort. „Es war eine spürbar hohe Gebrochenheit da – sowohl bei den Augenzeugen als auch bei den Ersthelfern.“ Schwab erklärt, was mit Menschen passiert, die ein solch schlimmes Ereignis beobachten: „Die Weltsicht wird erschüttert. Es ist ein Gefühl der Ohnmacht und des Kontrollverlusts.“ Bei denjenigen, die gesehen haben, wie die Personen von dem Auto getroffen wurden, sei die Reaktion deutlich heftiger ausgefallen.
Als Schwab am Unfallort eintraf, habe er ein „Trümmerfeld“ vorgefunden. „Es war erschreckend, mit welcher Wucht das Auto auf die Ampel aufgefahren ist.“ Für die psychosoziale Betreuung der Rettungskräfte war Susi Schurr verantwortlich. Nach Ende des Einsatzes habe es eine Besprechung im Feuerwehrmagazin Nürtingen gegeben. „Natürlich wurden auch die schlimmen Bilder angesprochen, die man vor Ort sehen musste“, sagt Schurr. Zu den Aufgaben der PSNV gehört auch die Betreuung der Angehörigen – die wohl schwerste Aufgabe. „Wenn du vor der Haustür stehst und weißt, dass sich für die Menschen hinter der Tür die ganze Welt ändern wird, wenn du auf diese Klingel drückst“, sagt Schurr.
„Es ist einfach furchtbar“, sagt OB Johannes Fridrich am Montagmorgen. Es sei ein Ampelüberweg, den viele und er selbst auch fast täglich nutzten. „Unsere Gedanken gelten den Angehörigen der beiden Unfallopfer. Ein unfassbares Leid kam unverschuldet über die Familien – es hätte uns alle treffen können.“ Ein herzlicher Dank gehe an alle Einsatzkräfte der Rettungsdienstorganisationen und der Nürtinger Feuerwehr und den Ersthelfern sowie dem Bauhof, die alle vorbildlich gehandelt haben. Ein besonderer Dank gelte auch dem Busfahrer. Er hoffe, sagte Fridrich, dass der verletzte Jugendliche schnell wieder gesund werde und allen Beteiligten „eine möglichst gute Verarbeitung dieses schrecklichen Unglücks“ gelinge.
Psychosozialen Notversorgung
Menschen, die den Unfall beobachtet haben und professionelle Hilfe in Anspruch nehmen möchten, können sich bei der Psychosozialen Notversorgung unter Telefon 0162/2563870 melden.