Der Krieg kommt morgens um halb sechs. Zuerst bellen in der Nachbarschaft die Hunde. Dann fallen die Bomben. Olga Poliska und ihr Mann Aleksandr packen ihre beiden Mädchen, zehn und sechs Jahre alt, und flüchten in den Keller. Die russischen Angreifer beschießen zunächst die nordwestlichen Vororte und Stadtteile der ostukrainischen Millionenstadt Charkiw. Im Südwesten der Stadt, wo die Familie lebt, bleibt es zuerst noch relativ ruhig.
Erstaunlicherweise funktionieren Internet und Mobilfunk weiterhin. Um sechs Uhr klingelt in einer kleinen Einzimmerwohnung in Kirchheim das Telefon: „Es ist Krieg.“ Und Oksana Einsele, Olga Poliskas beste Freundin aus Grundschultagen, ist in ihrer Kirchheimer Wohnung plötzlich mittendrin.
Telefon wird zur Rettungsleine
Olga Poliska bleibt zunächst in Charkiw. „Wir wollten ja nicht weg. Vor vier Wochen noch hatte ich einen Job, Pläne, ein Leben. Und plötzlich: Alles weg.“ Zumal sich die 40-Jährige eine Flucht zunächst auch nicht zutraut. Seit einem Schlaganfall vor zwei Jahren ist die gelernte Schneiderin nicht mehr gut zu Fuß, die Beweglichkeit der linken Körperhälfte ist eingeschränkt.
Die Hoffnung, dass sich die Lage wieder beruhigt, schwindet von Tag zu Tag. „Wir konnten den Kampffliegern zusehen, wie sie die Bomben abgeworfen haben“, erzählt Olga Poliska.In Kirchheim starrt die Freundin auf ihr Telefon und schreibt: Mach dich endlich auf den Weg!
Ein Nachbar wagt es. Und er bietet an, Olga Poliska und ihre beiden Mädchen mitzunehmen. Also packt die Ukrainerin: die Handtasche mit Papieren, umgerechnet 200 Euro in bar und zwei kleine Kinderrucksäcke mit Kleidung. Ihr Mann bleibt zurück.
Bis nach Poltawa sind sie statt der üblichen zwei Stunden 14 Stunden unterwegs. Bei den Eltern des Nachbarn finden sie für zwei Tage Unterschlupf. Olga Poliska möchte am liebsten wieder zurück nach Charkiw.
Die Menschen in Poltawa sammeln derweil Glasflaschen zusammen und bauen Molotov-Cocktails. Tags darauf, es ist der 2. März, zwängen sich Olga und ihre Kinder in einen Zug. Alles ist verrammelt, kein Licht soll durch die Fenster nach außen dringen, denn die Strecke führt über Kiew. Sie hören Gefechtslärm, doch irgendwie kommt der Zug unbeschadet durch. Am frühen Morgen des nächsten Tages summt in Kirchheim das Telefon: Wir sind in Lwiw!
Die Stadt ist voller Flüchtlinge. Olga Poliska und die Mädchen stehen am Bahnhof, wissen nicht wohin. Sie fragen sich durch und bekommen einen Tipp: Die Besitzer eines Fotoateliers haben kurzerhand ihre Räume freigemacht. Für drei Nächte können dort Frauen mit ihren Kindern unterkommen. Dann findet sich ein Helfer, der für das Benzingeld zwischen Lwiw und dem polnischen Przemysl hin- und herpendelt. Alleine für die 80 Kilometer bis zur Grenze braucht der Kleintransporter noch mal fast 24 Stunden. Irgendwann summt in Kirchheim das Telefon wieder: Wir sind in Polen!
Mittlerweile ist es Sonntag, 6. März. Einmal mehr stehen Olga Poliska und ihre Kinder vor einem Bahnhof – dieses Mal in Przemysl in Polen. Endlich keine Gefahr mehr. Aber auch noch kein Plan, wie die Reise nach Deutschland weitergehen soll. Das Geld ist praktisch alle. Und noch einmal kommt ihnen der Zufall zu Hilfe: Sie stoßen auf ein Auto mit deutschem Kennzeichen. Es gehört zwei Männern aus der Nähe von Kaiserslautern, der eine ist gebürtiger Pole, der andere ein Ukrainer aus Odessa. Sie sprechen Olga Poliska an. In Kirchheim klingelt wieder das Telefon, dieses Mal ist es eine unbekannte Nummer: Wo genau in der Nähe von Stuttgart müssen die drei denn hin?
Es ist Montag, 7. März, morgens gegen halb acht. In einer Kirchheimer Nebenstraße hält ein Auto mit Kaiserslauterner Nummernschild. Zwei Mädchen mit kleinen Rucksäcken steigen aus, einer der beiden Fahrer hilft Olga Poliska, die sich nach der langen Fahrt kaum mehr bewegen kann, aus dem Wagen. Die Freundinnen aus Grundschultagen fallen sich in die Arme. Für Olga Poliska und ihre Kinder enden sieben Tage voller Gefahren und Anspannung: „Erst als ich hier war, habe ich geweint.“ Gleichzeitig ist sie dankbar. „Den ganzen Weg über wurden wir von vielen, vielen hilfsbereiten Menschen unterstützt.“