Ordentlich gegen den Strich gebürstet ist sie, diese „Winterreise in den Frühling“, die Adelheid Kreisz als Schattenspiel inszeniert hat. Die Aussagen sind vielschichtig - wobei die Verbindung mit der aktuellen Flüchtlingsthematik deutlich überzogen ist: Wenn auch gleich zu Beginn des Liederzyklus, den Franz Schubert nach Texten von Wilhelm Müller geschaffen hat, die Worte „fremd“ und „Flüchtling“ auftauchen, so waren es vor rund 200 Jahren doch gänzlich andere Zusammenhänge als heute.
Bei Müller und Schubert ist der „Flüchtling“ ein junger Mann, der eine große Enttäuschung erfahren hat - in der Liebe und damit auch in der Lebensplanung. Er flieht also vor der Stadt und vor der Zivilisation, er flüchtet sich in die unbarmherzige Natur des Winters. Er flieht in die Einsamkeit, in die er sich mitsamt seinem Selbstmitleid verkriechen kann. Was er sucht, ist der Tod, der ihm die Erlösung von seinem Leiden verspricht.
Der Kontrast von Licht und Dunkelheit, von aufwallender Lebenslust und düsterer Todessehnsucht - er eignet sich perfekt für ein Schattenspiel. Selbst in Wilhelm Müllers Text wird das explizit angedeutet: „Es zieht ein Mondenschatten / Als mein Gefährte mit“. Der Schatten ist das Prinzip der Theaterkunst von Adelheid Kreisz, und der Mond ist der treue Begleiter des müden Wanderers.
Es gibt aber noch eine Begleiterin: die Krähe, die gemeinsam mit dem einsamen Wanderer „aus der Stadt gezogen“ war. Der Protagonist vergleicht sie mit einem Aasgeier, der auf Beute lauert. Andererseits aber hofft er, gerade durch diese Krähe endlich „Treue bis zum Grabe“ zu erleben. Ihm geht es tatsächlich ums Grab, das er zunächst vergebens sucht. Der schwarze Vogel passt auch weitaus besser zum Tod als zum Leben.
In der kompletten Umdeutung des Werks - die rein formal schon in der Umstellung der ausgewählten Lieder zum Ausdruck kommt - steht im Schattenspiel allerdings nicht der Tod am Ende, sondern das Leben. Statt dem „Leiermann“ setzt der „Frühlingstraum“ den Schlusspunkt. Die Betonung liegt auf dem „Frühling“ und nicht auf dem „Traum“. Der Traum wird zur Realität. Die „bunten Blumen“ - es gibt sie tatsächlich. Und die Krähe? Sie sitzt im Schlusstableau rechts unten im Eck und beweist Treue, aber keine „Treue bis zum Grabe“, sondern Treue über den Tiefpunkt der Depression hinaus.
Was den Wanderer in der Neuinterpretation wirklich rettet, ist nicht eindeutig festzumachen. Definitiv aber wird er auf dem Totenacker abgewiesen. Der Wanderer, der nichts als den Tod sucht, muss sich trollen. Der personifizierte Tod tanzt seinen Totentanz ohne ihn, er braucht ihn nicht - weder vorläufig noch längerfristig.
Das hat sich bereits beim Lied vom „Wegweiser“ abgezeichnet: „Einen Weiser seh‘ ich stehen / Unverrückt vor meinem Blick; / Eine Straße muss ich gehen, / Die noch keiner ging zurück.“ Bei Wilhelm Müller - und erst recht bei Franz Schubert - ist da kein Ausweg mehr in Sicht. Bei Adelheid Kreisz dagegen steht der Wanderer vor dem blutroten Wegweiser - und trollt sich dann, wie später vor dem Tod. Er macht kehrt und geht die Straße tatsächlich zurück.
Lieder ohne Worte
Wirklich kein Zurück gibt es allerdings in der Musik: Els Jordaens an diversen Flöten und Konstanze Liebeskind am Cello sind außer für Musik auch für „Stimmen und Geräusche“ zuständig. Sie zitieren einzelne Textpassagen, lassen den Wind hörbar werden oder die Ketten der Hunde rasseln. Gerade ohne Gesang wird Schuberts Musik so zum Ausgangspunkt für eine umso intensivere Beschäftigung mit Müllers Text.
Was bleibt am Ende? Zumindest für die Ziegelhütte eine weitere Umdeutung des „happy endings“: Adelheid Kreisz hat, gemeinsam mit ihren Musikerinnen, zum Abschluss des Kunst- und Aktionspfads zwei Benefizvorführungen ihrer „Winterreise“ gegeben. Die Einnahmen werden für den Wiederaufbau des Schafstalls verwendet. Vor bald zwei Jahren war er zum Beginn des Winters abgebrannt. Jetzt soll er in einem schönen Frühling neu erstehen.