Die Vorzeichen der Wirtschaft stehen auf Krise, und das liegt nicht nur an Corona. Dessen ist man sich auch auf der Esslinger Delegierten-Versammlung der IG Metall bewusst. „Gefangen im Erfolg“, zeigt Jürgen Groß, zweiter Bevollmächtigter der Esslinger Geschäftsstelle, etwa ein Problem der Autoindustrie auf: Dort sei seit zehn Jahren zu erwarten gewesen, dass die technologische Wende komme, aber man habe keinen Grund gehabt, über den Tag hinaus zu denken. Es lief auch so. Jetzt droht massiver Arbeitsplatzabbau. „Wir brauchen Umwelttechnologien statt Verzichtsdiskussionen“ fordert er. Die Beschäftigten dürften nicht als Einzige verzichten bei dem Transformationsprozess. Rund 1500 Entlassungen sind allein im Bereich der IG Metall Esslingen geplant, am meisten bei Eberspächer und Balluff.
Angst ist greifbar
Es wird an diesem Abend in der Denkendorfer Festhalle klar, dass sich auch die größte deutsche Einzelgewerkschaft nicht dem Fortschritt entgegenstellen kann und will. Die Worte „Transformation“, Digitalisierung und „technologischer Wandel“ fallen deutlich häufiger als „Corona“. Und die Angst vor Arbeitsplatzverlusten bei Automobil-Herstellern und Zulieferern ist greifbar, betrifft sie doch besonders die Region.
Ein Grund mehr für den IG-Metall-Bundesvorsitzenden Jörg Hofmann, der aus dem Rems-Murr-Kreis stammt, persönlich an diesem Abend zu erscheinen. Außerdem stehen die nächsten Tarifverhandlungen ins Haus, als Nächstes bei VW sowie in der Metall- und Elektro-Industrie, bevor im Februar 2021 Eisen- und Stahl- sowie die Textilindustrie folgen. „Die Rezession trifft auf einen Transformationsprozess“, greift er mit kräftiger Stimme zwei Schlagwörter auf, die diesen Abend bestimmen. Und „Corona“ spielt dann doch einmal eine Rolle: Wegen der Pandemie treffe die Angebots- auf eine Nachfragekrise, glaubt Hofmann. Gerade im Süden Europas könne es wegen des Virus zu Betriebsschließungen kommen. Produktionsengpässe wären die Folge, wobei gleichzeitig die Nachfrage einbricht. Damit es nicht wie bei der Krise 1994/95 zur Entlassung von einer Million Arbeitern im Metallsektor kommt, fordert Hofmann eine Umstellung. Es gebe die Chance auf eine „sozial-ökologische Gesellschaft“, mit der Europa im internationalen Wettbewerb bestehen könnte. Auch in der Krise dürfe man keine Angst haben, für eine gerechte Verteilung der Ergebnisse der Wertschöpfung zu kämpfen. Hofmann kommt in den Kampfmodus: „Flächendeckend in die Offensive“ müsse man gehen. Und wegen Corona und ausfallender Betriebsratssitzungen müsse man neue Lösungen finden. Sprich: Via Bildschirm ist die Mobilisierung deutlich schwieriger zu schaffen. In der anschließenden Diskussion werden Lösungen genannt: „Kleinere Versammlungen oder Info-Stände auf dem Betriebsgelände. Ein Hauch Corona-Protest weht durch den Saal: Man müsse laut auf seine demokratischen Rechte pochen, dazu gehörten auch Betriebsversammlungen, sagt ein Delegierter.
Hofmann hat aber auch einen konkreten Vorschlag im Gepäck: Die Vier-Tage-Woche. „Damit wir nicht in den Zyklus reinkommen, dass Arbeitsplätze abgebaut werden, die später wieder gebraucht werden.“ Das Gleiche treffe auf die Azubis zu: „Wer jetzt Ausbildung streicht, versündigt sich an der Zukunft“, sagt er. Der erwartbare Applaus im Saal folgt.
Homeoffice ist ein „süßes Gift“
Dass einige Delegierte anmerken, dass die Vier-Tage-Woche teilweise schon praktiziert wird, auch in Form von Homeoffice-Lösungen, greift Hofmann in einer zweiten Runde auf dem Podium noch einmal auf. Homeoffice sei „ein süßes Gift“. Es zeige Unternehmern, dass Büroplätze eingespart werden und in der Folge Firmenzentralen „plötzlich nach Kalkutta verlegt“ können. Für ihn stehen daher drei Ziele im Zentrum der aktuellen Gewerkschaftsarbeit: Die Krise ohne Entlassungen überstehen, Einkommen und Kaufkraft sichern. Denn die Nachfrage müsse von innen kommen: „2009 hat uns China aus der Krise geholt. Dieses Mal nicht“, sagt er. Und drittens müsse man die technologische Transformation forcieren. Das müsse auf europäischer Ebene geschehen, um eine Alternative zu Amazon und Co zu schaffen.