Eine steinerne Mutter Gottes mit dem Jesuskind steht in Gerhard Tagwerkers Garten. Durch das Fenster seines Ateliers in der Obergasse in Echterdingen blickt der Künstler auf die Heiligenfigur. „Fromm im klassischen Sinn bin ich nicht“, sagt Gerhard Tagwerker, der im deutschen Südwesten, aber auch in Frankreich, Österreich und Holland mehr als 100 Kirchen ausgestattet und gestaltet hat. Dennoch lebt der gebürtige Österreicher für die christlichen Werte, die seinen Alltag prägen. Heute feiert der Künstler seinen 90. Geburtstag.
Bis zu diesem Tag arbeitet der Bildhauer fast täglich in seinem Atelier. Das kostet ihn viel Kraft. „Mit dem harten Material Stein geht es nicht mehr“, sagt der Senior. Holz und Keramik sind jetzt
war immer faszinierend.
seine bevorzugten Materialien. Wenn er von seiner bewegten Lebensgeschichte erzählt, strahlt der Bildhauer. Er ist glücklich, dass er als Künstler so vieles bewirken durfte. Das immense Spektrum seines Schaffens zeigt sich schon beim Blick in das große Atelier. Abstrakte Skulpturen aus Metall und Holz, die freie Assoziationen wecken, hat er ebenso geschaffen wie klassische, gegenständliche Kirchenkunst. Und doch haben seine Werke eines gemeinsam. Dem Guten im Menschen eine Form geben, dieser Anspruch zieht sich wie ein Leitmotiv durch seine Werke.
Schmerz und Leiden sind aus vielen der Gesichter und der Körper herauszulesen, die Gerhard Tagwerker geschaffen hat. Die hässliche, kalte Fratze des Lebens hat der 1932 in Klagenfurt geborene Künstler bei der Vertreibung der Deutschen aus Tschechien erfahren. Da entkam der Sohn eines Österreichers nur knapp einem tschechischen Exekutionskommando. „Es war so schrecklich. Man hat mich neben den Toten liegengelassen.“ Diese Erfahrung prägt sein künstlerisches Gedächtnis. Wenn der 90-Jährige davon erzählt, zittert seine Stimme. Als Zeitzeuge hat Tagwerker vieles erlebt. Diese traumatischen Erlebnisse haben sein Schaffen ebenso beeinflusst wie die Lebensfreude, die er ausstrahlt – heute mehr denn je.
Künstlerisch war er immer ein Grenzgänger. Seine Kreativität lebte er schon als Kind aus. Da habe ihn die Oma animiert, mit Knete zu modellieren. Nach dem Notabitur in Eisenach hat er sich in Bamberg zum Bildhauer und Barock-Stuckateur ausbilden lassen. „Es hat mich immer fasziniert, mich mit der Kunstgeschichte zu beschäftigen“, blickt er zurück. Zunächst arbeitete er in Wallfahrtskirchen und in Schlössern. Nicht zuletzt durch die Amerikaner, die nach dem Zweiten Weltkrieg als Besatzungsmacht ins Land kamen, entdeckte Tagwerker seine Liebe zur Musik. In Würzburg studierte er Bass, Posaune und Schlagzeug. „Jazz hat mich ebenso begeistert wie die Klassik“, schwärmt er. Stars wie Louis Armstrong und David Oistrach hat er damals live erlebt.
Die Bildende Kunst ließ ihn aber nie los. Anfang der 1950er-Jahre kam er nach Stuttgart, um am Wiederaufbau der frühgotischen Stiftskirche mitzuwirken. Da lernte er nicht nur seine spätere Frau Katharina kennen. Nebenbei studierte er Grafik an der Merz-Akademie. Später wechselte der Bildhauer an die Staatliche Akademie der Bildenden Künste. „Das Studium habe ich durch meine Auftritte als Jazzmusiker finanziert.“ Seine beiden Leidenschaften so verbinden zu dürfen, das hat ihm gut gefallen.
Tragwerker will motivieren
Diese Vielseitigkeit kam Gerhard Tagwerker auch bei seiner Lehrtätigkeit zugute. Am damaligen Eduard-Spranger-Gymnasium in Bernhausen hat er Kunst unterrichtet. Er wurde 1972 zunächst als Hilfslehrer eingestellt – vorerst für ein Vierteljahr. Daraus seien 26 glückliche Jahre geworden. „Nebenbei habe ich eine Jazz-AG gegründet, die bei den Schülerinnen und Schülern sehr gut ankam.“ Junge Menschen zu motivieren, ihre künstlerischen Talente zu entfalten, das hat Gerhard Tagwerker gereizt.
Der Weg zu seinem Atelier in der Obergasse ist von Kunstwerken gesäumt. Holzfiguren geleiten die Gäste ins Innere. „Ich finde es schön, hier mit den Menschen über meine Arbeit ins Gespräch zu kommen.“ Dass ihm die Stadt Leinfelden-Echterdingen eine Retrospektive widmet, die morgen im Stadtmuseum eröffnet wird, freut ihn sehr. Das Gebäude ist nur wenige Gehminuten von seinem Haus entfernt. Zusätzlich zu den Führungen am Sonntag, 6. März, und zur Finissage am 15. Mai möchte er immer mal wieder Interessenten durch die Ausstellung führen.
Begegnungen fließen in Kunst
Den Kontakt, den Austausch mit Menschen liebt Tagwerker. Die vielen Begegnungen, die er in seinem langen Leben hatte, sind in seine sakrale Kunst eingeflossen. Liebevoll denkt er da an die enge Beziehung zum katholischen Bischof Georg Moser, für den er im Stuttgarter Bohnenviertel eine Skulpturengruppe geschaffen hatte.
Auf Ausflugsschiffen musiziert
Der Bildhauer und Jazzmusiker Gerhard Tagwerker wurde am 19. Februar 1932 in Klagenfurt geboren und ist im Sudetenland aufgewachsen. Als Zweijähriger kam er ins nordböhmische Teplitz-Schönau. Er studierte in Würzburg Musik und in Stuttgart an der Staatlichen Akademie für Bildende Kunst.
Mit der Musik hat sich Tagwerker nicht nur sein Studium finanziert. In seinen Jahren am Bodensee spielte er dort auf Ausflugsschiffen. Unterhaltungsmusik ist seine Leidenschaft. Der Jazz bot dem Künstler immer einen Ausgleich zur Schwere der sakralen Kunst. eli