Eine gusseiserne Tafel hängt über dem Dorfbrunnen in Bodelshofen. Sie wurde anlässlich der 725-Jahr-Feier angebracht. „Gestiftet von der Dorfgemeinschaft“, steht dort geschrieben. Wer die Tafel gemacht hat, ist nicht ersichtlich. Eine Signatur fehlt. Doch alteingesessene Bodelshofener wissen, wer sie angefertigt hat. Ein handwerklich nicht ganz unbegabter Mann. Derselbe, der vor vier Wochen in Esslingen einen 31-Jährigen mit einer selbst gebauten Waffe erschossen hat.
Eine Tat, die noch immer fassungslos macht. Vor allem, weil es so aussieht, als hätten die Behörden gewusst, welche Gefahr von dem 61-jährigen Bernd B. ausging. Sogar der ehemalige Anwalt von Bernd B. hatte die Polizei davor gewarnt, dass Luca S. etwas zustoßen könnte. Auch der Vater des Opfers hat sich mehrmals an die Polizei gewandt und von Drohungen gegen ihn und seinen Sohn berichtet.
In ständiger Angst gelebt
Doch Anzeichen für die Gefährlichkeit von Bernd B. gab es schon sehr viel früher. Die Spur führt in das beschauliche Bodelshofen. Rund 250 Meter von dem Dorfbrunnen entfernt steht das Geburtshaus von Bernd B. Noch immer wohnt Anneliese S. hier – trotz der vielen schmerzhaften Erinnerungen. Jahrelang habe sie und ihre Familie unter Bernd B. gelitten. „Er war der Teufel. Absolut zerstörerisch und hasserfüllt“, sagt die Rentnerin. Auch ihre Tochter erinnert sich: „Wir haben in ständiger Angst gelebt.“
Das alles sei 30 Jahre her, eigentlich haben sie mit den Geschehnissen abschließen wollen. Doch ihnen ist es ein Anliegen, dass der Familie von Luca Gerechtigkeit widerfährt. Für Anneliese S. ist klar: „Es war so unnötig, dass der junge Mann gestorben ist. Wenn jemand gewollt hätte, hätte man das verhindern können.“
1990 habe sie das Haus in Bodelshofen gekauft, gleich gegenüber ihrer alten Wohnung, erzählt Anneliese S. Damals habe sie sich bereit erklärt, dem Sohn der Vorbesitzerin die Garage im Erdgeschoss für zehn Jahre zu überlassen. Ein großer Fehler, wie sich im Nachhinein herausstellen sollte. „Ich habe ihn quasi mit dem Haus gekauft.“
Bernd B. habe sich in der Werkstatt einquartiert und darin gewohnt. „Er hat sich eine Matratze auf zwei Öl-Tanks gelegt. Das war sein Bett“, erinnert sich Anneliese S. Miete habe er nie gezahlt. Tagsüber seien in der Werkstatt „die Funken geflogen“. Immer wieder habe Bernd B. mit irgendwelchen Stoffen herumexperimentiert. „Ich habe immer gedacht, mir fliegt die Hütte bald um die Ohren.“
Es sei von Anfang an schwierig gewesen, eskaliert sei die Situation aber erst, als der Freund und heutige Ehemann der Tochter regelmäßig zu Besuch kam. „Er muss mich als Gefahr gesehen haben“, sagt der Ehemann heute. „Ab diesem Zeitpunkt war es Bernds Lebensinhalt, uns das Leben zur Hölle zu machen“, ergänzt Anneliese S. Bernd B. habe „wie besessen“ gegen Metallrohre gehämmert, Tag und Nacht Death-Metal-Musik in voller Lautstärke gehört und das Wasser so lange laufen lassen, bis die Stadtwerke Wendlingen angerufen und Alarm geschlagen hätten. „Die wollten wissen, ob wir einen Pool haben.“
Ein Grabstein vor der Tür
Draußen habe er der Familie aufgelauert und ihnen gedroht, erinnert sich der Schwiegersohn von Anneliese S.: „Er hat immer darauf gewartet, dass jemand von uns vorbeiläuft. Er hatte ein Glas mit weißem Pulver in der Hand und meinte: ,Das reicht schon für euch alle‘.“ Einmal habe sogar ein Grabstein neben der Eingangstür gestanden. „Er sagte: ,Da steht bald euer Name drauf‘.“
Wöchentlich habe die Familie die Polizei gerufen. „Irgendwann sind sie gar nicht mehr gekommen“, sagt Anneliese S. „Ich war sogar hochschwanger bei der Polizei“, ergänzt die Tochter. „Die sagten mir nur, ich soll mich ruhig verhalten.“ Die Familie fühlte sich ausgeliefert. „Das Schlimmste an der Situation war, dass man komplett machtlos war“, sagt die Tochter. Von der Polizei habe es immer nur die Aussage gegeben, dass sie nichts tun können. „Wir haben die Polizei gefragt, ob erst etwas passieren muss, bevor sie etwas unternehmen. Sie sagten, ,Ja‘ “, so der Schwiegersohn.
Jahrelang kamen noch Anrufe
Dann geschah tatsächlich etwas: „Ich war mit dem Kinderwagen unterwegs, da hat er mich ins Gebüsch gezogen.“ Vor den Augen ihres anderthalb Jahre alten Kindes habe er sie angegriffen, erzählt die Tochter. Danach habe man Bernd B. endlich aus der Werkstatt klagen können. Doch das habe er sich nicht gefallen lassen wollen. „Er hat Unterschriften in Bodelshofen gesammelt, damit er bleiben kann. Jeder Zweite hat damals unterschrieben“, sagt Anneliese S. Gebracht habe es nichts. „Vier Polizisten haben ihn herausgetragen.“ Danach habe sie noch über Jahre belästigende Anrufe bekommen. „Der letzte kam drei Tage vor der Tat in Esslingen“, sagt Anneliese S. „Er sagte nur ,Wir sehen uns‘.“
Wo er nach seiner Zeit in Bodelshofen war, kann Anneliese S. nicht genau sagen. Gehört habe sie von einer Behandlung in einer psychiatrischen Klinik. Gerüchten zufolge soll er dann nach Esslingen gezogen sein. Dann hörte sie von dem Fall in der Esslinger Innenstadt: Nach Mietstreitigkeiten tötete ein Mann den Sohn seines Vermieters, zündete das Haus an und erschoss sich selbst. „Als ich das gehört habe, habe ich gleich gedacht: Das hört sich nach ihm an.“ Dann habe sie relativ schnell erfahren, dass der mutmaßliche Täter tatsächlich ihr ehemaliger Werkstatt-Bewohner gewesen sein soll. „Wir haben erst dann realisiert, dass wir nur Glück hatten, dass in unserem Fall nichts Schlimmeres passiert ist“, sagt die Tochter.
Nicht nur in Bodelshofen ist Bernd B. in Erinnerung geblieben. Auch eine ehemalige Mitarbeiterin der Wendlinger Zeitung hat den Namen nach all den vielen Jahren nicht vergessen. Auf den Namen angesprochen, sagt sie ohne zu zögern: „O ja, der Mann war psychisch krank.“ „Er kam fast täglich in die Geschäftsstelle und hat die Mitarbeiter bedroht.“ Grund sei eine Polizeimeldung gewesen, die ihm nicht gepasst habe. „Er sagte etwas davon, dass er eine Rakete oder Bombe zünden werde“, kann sich die Frau dunkel erinnern. Die Polizei habe man damals nicht verständigt.
Zwei Wochen nach dem Tod von Luca versammelten sich Hunderte Menschen zu einem Trauermarsch in Esslingen. „Wir wollten unbedingt daran teilnehmen, weil wir der Familie von Luca helfen wollen“, sagt der Schwiegersohn von S. Seit mehr als 30 Jahren seien Warnungen ignoriert worden. „Man ist einfach so sauer. Das war zumindest fahrlässig, wenn nicht noch mehr. Jemand muss dafür zur Rechenschaft gezogen werden“, sagt der Mann. Aktuell prüft die Staatsanwaltschaft Heilbronn, ob es in dem Fall mögliche Behördenversäumnisse gegeben hat. Auf eine Nachfrage beim Polizeipräsidium Reutlingen nach den Polizeieinsätzen in Bodelshofen zwischen 1991 und 1996 gab es folgende Antwort: „Diese Informationen aus dem Bereich der früheren Polizeidirektion Esslingen stehen uns nicht zur Verfügung. Reine Einsätze werden per se nicht statistisch erfasst. Zudem wären selbst die höchstmöglichen gesetzlichen Speicherfristen für Straftaten bereits um ein Mehrfaches überschritten.“