Wenn sein derzeitiger Vertrag im Sommer 2024 endet, wird Marcus Grube zehn Jahre lang im Gespann mit Friedrich Schirmer die Esslinger Landesbühne (WLB) geleitet haben: von 2014 bis 2019 als Chefdramaturg und stellvertretender Intendant, von 2019 bis 2024 als Intendant in einer Doppelspitze mit Schirmer. Danach geht er allein ans Ruder: Grube wird von 2024 an zum WLB-Intendanten und mit einem Vertrag bis zunächst 2029 ausgestattet. Im Interview erklärt er, wo er Kontinuität walten
lassen und wo er eigene Akzente setzen will.
Herr Grube, zehn Jahre an der Seite Friedrich Schirmers, dann allein: Befreiung oder Belastung?
Marcus Grube: Weder noch. Vieles wird gleich bleiben ohne Friedrich Schirmer – und doch anders sein. Wir arbeiten ja aus einem Geist heraus, wir haben den gleichen Blick auf die Bühne und die Stoffe. Ich wäre nicht gut beraten, diese Sichtweise leichtfertig über Bord zu werfen.
Wird Schirmer im Ruhestand eine Art Elder Statesman der WLB?
Grube: Nein. Ich glaube, das will er auch nicht. Aber er wird weiter in der Stadt wohnen. Insofern werden wir uns sehen und auch in Zukunft über unsere gemeinsame Leidenschaft Theater
austauschen.
Sind Sie beide immer noch per Sie?
Selbst wenn wir bei Ikea gemeinsam geduzt würden, bleiben
wir untereinander beim herzlichen Sie.
Was wird anders sein – ohne Schirmer?
Natürlich bietet die Veränderung Chancen – etwa, dass man persönlich wächst an der Last, die dann auf einem allein liegt, und dass man eigene Schwerpunkte
setzen kann.
Welche?
Man braucht das Modell Landesbühne nicht neu zu erfinden, aber es gibt viele Themen, denen es sich stellen muss; zum Beispiel das enger werdende Finanzkorsett der Kommunen, das uns zum Nachdenken über zusätzliche Kooperationspartner zwingt. Neu überdenken muss man auch den Gastspielbetrieb, an dem unsere Finanzierung mit einem Landesanteil von 70 Prozent hängt. Statt der Devise „Gastspiel und weg“ geht es um Nachhaltigkeit kultureller Strukturen auch im ländlichen Raum. Wir konkurrieren auf dem Gastspielmarkt mit den Tourneetheatern, und da müssen wir als Alleinstellungsmerkmal, aber auch zur Legitimation der Landeszuschüsse eine Konzeption für kontinuierlichere Angebote entwickeln. Ich bin dabei ein Freund des Transformationsdesigns: statt ganz große Ideen schwingen, lieber die Kunst des Möglichen mit kleinen, aber konsequenten Schritten ausloten.
Was sind die Eckpunkte Ihres Konzepts?
Wir haben zum Beispiel in den vergangenen Jahren aus Mitteln des Innovationsfonds Baden-Württemberg viele Projekte angestoßen. Das sind erst mal einmalige Projekte, aber die Frage ist dann, wie weit sie sich verstetigen lassen. Wichtig finde ich, dass die Präsenz der Landesbühne an ihren Spielorten gestärkt wird – auch über den Kultur-Dialog, den wir auf Landesebene führen. In Esslingen nehmen uns die Menschen erst mal als Stadttheater wahr. Die wenigsten wissen, dass wir oft an zwei Orten gleichzeitig spielen. Ich finde es wichtig, unseren Auftrag, auch in der Fläche Theater zu machen, selbstbewusst zu vermitteln. Weiter ausbauen möchte ich den Dialog mit den Schulen in den Gastspielorten. Da erreichen wir Schüler und Lehrer. Von diesem Austausch profitieren auch wir.
Strategische Überlegungen in allen Ehren – aber wie steht es mit der Kunst?
Es gibt im Theater keinen Kanon mehr. Es hat also keinen Sinn, wenn wir die fünfte Ableitung der zehnten Interpretationslinie eines Klassikers inszenieren, den kaum mehr jemand kennt. Das heißt: Die Vermittlungsarbeit wird immer wichtiger. Was seit der Einführung des achtjährigen Gymnasiums an musisch-kulturellen Inhalten aus den Lernplänen gekippt ist, müssen wir mit auffangen. Daher wird auch die Rolle des Kinder- und Jugendtheaters größer und anspruchsvoller.
Ihre Berufung auf das kulturelle Erbe steht quer zu aktuellen Tendenzen der Distanzierung von diesem Erbe – aus Ignoranz, Desinteresse oder moralischer Verurteilung im Stil der Cancel-Culture. Warum ist dieses Erbe so wichtig?
Wer sich weiterentwickeln will, muss wissen, wo man herkommt. Wir dürfen uns dabei nicht als Richter über Werke aufspielen, die Sichtweisen der Vergangenheit reflektieren. Wir brauchen vielmehr eine Offenheit für Geschichte und Geschichten. Die sogenannte Cancel-Culture ist das Gegenteil davon. Teilweise werden einfach nur Autor und Werk verwechselt, und selbst wenn dies nicht der Fall ist, werden gerade die Diskussionen verhindert, die dringend stattfinden müssten. Ich sehe die Gefahr, dass diese Auseinandersetzungen überhaupt nicht mehr kompetent geführt werden.
Sie werden also an dem Spielplankonzept der Vergegenwärtigung von Zeitgeschichte festhalten?
Ja. Der aktuelle Mehrwert und möglichst Erkenntnisgewinn aus der Betrachtung des Vergangenen bilden die Relevanz des Theaters. Theater ist nicht systemrelevant, wie manche während der Coronakrise behaupteten. Aber es kann Relevantes über politische und gesellschaftliche Systeme aussagen.
Und welche Theaterästhetik trägt nun das kulturelle Erbe in die Zukunft?
Weder die Rückkehr zu verstaubten Klassiker-Inszenierungen noch das Blendwerk scheinbar radikaler Überformung. Für die großen Bühnen stellt sich die Frage anders, aber wir an der Landesbühne sind zurückgewiesen auf die elementaren Theatermittel: Darsteller, Text, Zuschauer. Das ist zugleich Chance und eigenständige Ästhetik.
Ein Problem, das auf Sie zukommt, ist die Sanierung des Esslinger Schauspielhauses. Müssen Sie auf Interimsspielstätten ausweichen?
Der Sanierungsbedarf bezieht sich auf das Dach, das an vielen Stellen beschädigt ist. Das zweite Problem ist der Zuschauerraum. Da sind die Abstände an etlichen Plätzen unterschiedlich. Wir haben eine Lüftungsanlage, die Luft aus den Sitzen verströmt. Was die Aerosole angeht, mag das günstig sein. Der Brandschutz erfordert jedoch, dass wir uns da nach den aktuellen Bestimmungen richten. Das Haus wurde vor 40 Jahren nach damaligen Standards gebaut, die nicht mehr zeitgemäß sind. Da müssen wir Verordnungen einhalten. Ich denke, dass sich das in vier bis fünf Monaten sanieren lässt – wenn wir uns an das Motto „erst planen, dann bauen“ halten. Wenn wir im Sommer die Freilichtaufführungen spielen und die Theaterferien dazurechnen, ist eine lange Schließzeit zu vermeiden. Da wir die Produktionen an die Gastspielorte verkaufen, wären reine Stadtraumprojekte, die nur auf Esslinger Räume zugeschnitten sind, unrealistisch.
Zur Person
Theologe und Theatermann Marcus Grube wurde 1973 in Erlangen geboren. Er studierte evangelische Theologie, absolvierte danach ein Schauspielstudium an der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst in Stuttgart.
Weggefährte Als Regieassistent und Regisseur war er am Stuttgarter Staatsschauspiel in der Intendanz Friedrich Schirmers engagiert. Dessen Rückkehr als Intendant an die Esslinger WLB führte 2014 die Wege zusammen.
Kulturpolitischer Stratege Grube leitete von 2018 bis 2020 das Forum „Strategien der Transformation“ im Projekt „Dialog 2020. Kulturpolitik für die Zukunft“ des baden-württembergischen Kunst-Ministeriums. mez