Ein rundes Jahrhundert ist es her, dass der elektrische Strom nach Bissingen kam. In die Orgel der Marienkirche aus dem 14. Jahrhundert wurde damals sogleich ein Motor eingebaut. Jetzt muss dieser Motor ersetzt werden, eine Reparatur tut es nicht mehr. Denn der alte Motor könnte heiß laufen, das würde Brandgefahr bedeuten.
Für den Notfall haben die Bissinger damals zur alternativen Winderzeugung weiterhin eine mechanische Kurbel belassen. Denn so zuverlässig wie heute war die Stromversorgung am Anfang noch nicht. Die Kurbel sei nun unnötig, wurde dann aber bei einer Kirchenrenovierung befunden - also wurde sie weggerissen. Doch 1996 investierte die Kirchengemeinde rund 10 000 Mark in eine Tretanlage. Gäbe es sie nicht, müsste die Gemeinde nun für einige Wochen auf ihren Orgelklang verzichten.
Einer, der diese Tretanlage gerne bedient, ist Fritz Grünzweig. Er ist damit ein Kalkant, auch Calcant geschrieben. Das kommt vom lateinischen „calcare“, also treten: Der Kalkant ist der Balgtreter, der beim Orgelspiel für den nötigen Wind sorgt. Um die Tretanlage mit ihren drei Steigbügeln zu bedienen, ist ein gewisses Körpergewicht nötig. „Aber Konfirmanden können das auch, sie müssen vielleicht mit den Händen mithelfen“, sagt Fritz Grünzweig. „Das klappert ein wenig. Je mehr Register der Organist zieht, desto schneller kommen die Pedale wieder hoch.“ Die Konfirmanden haben in diesem Fall den Organisten in der Hand, vielleicht sollte man ihnen nicht zu laut sagen: Wenn sie das Treten einstellen, könnte der Organist spielen, so viel er will, es käme kein einziger Ton mehr.
Jörg Tobias, der nicht nur Organist, sondern auch Orgelbauer ist, schwärmt von der Fußarbeit. „Das klingt nicht so statisch, der Ton bleibt nicht so konstant. Das klingt schöner, hier weht ein anderer Wind.“ Den Anteil an Orgeln, bei denen noch ohne Motor Wind erzeugt werden kann, schätzt Tobias auf etwa 20 Prozent. „Im Albvorland mit seinen vielen historischen Instrumenten könnten es auch 30 bis 50 Prozent sein.“ Auch kleine Truhenorgeln wie in der Kirchheimer Martinskirche hätten häufig eine Tretanlage. Sie werde vom Organisten selbst bedient, er habe dort ja die Füße frei. „Der Organist erzeugt den Wind selbst, wie ein Akkordeonspieler.“ Jörg Tobias lässt generell immer wieder vom Kalkanten den Wind erzeugen - wegen des Klangs.
Dank der Tretanlage arbeitet der Kalkant direkt neben der Orgel. Die Steigbügel sind mit dicken Seilen mit der Balgstube direkt darüber verbunden. Dort wäre es zum Treten eng und im Winter sehr kalt, beim Weg dorthin muss man sich zweimal unter Balken hindurchbücken. Dass direkt in der Balgstube getreten wurde, gab es aber in Kirchen früher auch. Eine Lampe zeigte dem einsamen Kalkanten an, wann das Treten beginnen sollte und wann er wieder aufhören konnte.
Man könnte das Treten von Hand vielleicht auch noch anders bewerben: Wie wäre es mit einem CO2-freien Gottesdienst? Ohne Licht und Heizung ginge im Sommer ja noch, aber was ist mit dem Mikrofon und den Glocken?