Drei Amseln streiten sich um einen Regenwurm, zwei Jungen halten eine Blume in der Hand, nicht in freier Natur, sondern in schwarz auf einem Ei. Es sind Motive, die aus der Hand von Margret Gänßlen stammen. Die 81-Jährige holt aus Umschlägen Scherenschnitte hervor. „Hase“ steht auf einem Kuvert, auf einem anderen „Gänse“ – ihr Lieblingsmotiv. Es passe zu ihrem Namen, meint sie und lacht.
Die Silhouette von Esslingen als Scherenschnitt
Die Sozialpädagogin und Kindergärtnerin kam während ihrer Ausbildung zum Ei. Sie sollte innerhalb von acht Stunden eines bemalen. „Das hat sich praktisch verselbstständigt“, sagt sie. Anfänglich bemalte sie die Eier mit Aquarellfarben und runden Ornamenten, später kamen mit Bändern überzogene dazu. Links neben dem Sofa hat sie welche in einer langen Glasröhre liegen. Rechts stehen in einem großen runden Glas Eier mit Scherenschnitten. Da liegen Hühnereier neben Gänseeiern und auf einem selbst getöpferten Teller zwei Straußeneier. Die Silhouette von Esslingen hat sie auf einem als Scherenschnitt verewigt. „Ich entwickle die Scherenschnitte, wenn ich etwas Hübsches sehe und male dann etwas Ähnliches“, sagt sie. Hat sie einen auf ein Ei geklebt, behält sie immer ein Exemplar von jedem Motiv.

Doch bevor der Scherenschnitt auf ein Ei kommt und es lackiert wird, hat Gänßlen eine schwierige Vorarbeit zu leisten, seit sie vor einigen Jahrzehnten auf die Idee kam, Eier mit Versen zu versehen. In einem Bastelbuch sah sie eine Skizze für Kurbeleier. Sie waren in der Biedermeierzeit bei Liebespaaren für geheime Botschaften beliebt. Sie schrieben sie auf Bänder und versteckten sie darin.
Gänßlen hat sich diese Kunst selbst beigebracht und im Laufe der Jahre verfeinert. Vor ihr liegt ein ausgeblasenes Ei, auf das sie mit einem Bleistift einen Schlitz markiert hat. Sie steckt ihren Geradschleifer in die Steckdose, setzt sich ans Fenster und fräst mit ruhiger Hand einen Schlitz in das Ei. Früher hat sie ihn mit dem Messer eingefügt. Da ging das eine oder andere Ei kaputt, erzählt sie. Gänßlen zeigt, wie sie mit einem Maßband den Schlitz abmisst, um die Breite für das Tonpapier entsprechend zuzuschneiden. Sie schreibt mit einem weißen Stift einen Vers darauf. „Spielen Mücken im Februar, feiern Schaf und Bienen das ganze Jahr“, zitiert sie eine alte Bauernregel aus dem Kopf. Sie holt zwei große Bücher hervor, in denen sie all die Sprüche eingetragen hat, die sich in den Eiern finden. Zitate, Kinderlieder oder auch Sprüche, die sie unterwegs an einem Schaufenster gesehen und notiert hat. „Ich gehe mit meinem Blöckle durch die Stadt und schreibe kurze Vierzeiler auf“, sagt sie. Passend zum Spruch wählt sie das Motiv des Scherenschnitts aus. „Magere Gans und herber Wein, Gott behüt’ uns vor den zwei’n.“
Gänßlen zeigt, wie sie das Tonpapier hinten mit einem Stück Stoff beklebt und so eine kleine Schlaufe entsteht. Beides schiebt sie in den Schlitz. Danach kommt die diffizilste Arbeit. Mit einer Hand versucht sie ein Holzstäbchen in das Ei einzuführen. Sie muss im Innern die Schlaufe treffen und dann wieder mit dem Holzstäbchen am oberen Loch hinausfinden. „Zeit brauche ich dazu und ganz, ganz viel Geduld“, sagt sie. Kommt das Stäbchen oben heraus, klebt sie oben und unten auf die Spitzen eine Perle und zieht oben davor eine Schleife ein. Sie bastelt ein Kurbelchen aus Draht, befestiget es am Ende des Tonbandes und lässt alles trocknen. Wie viele Eier sie in ihrem Leben verziert hat, weiß sie nicht. Nur eins weiß sie genau: „Verschenken ja, jemanden eine Freude machen, ja, aber verkaufen, nein“, sagt sie bestimmt.