Weilheim · Lenningen · Umland
Holocaust-Überlebende spricht in der Realschule Weilheim

Zeitzeugin Ruth Michel hat den Holocaust im polnischen Mikuliczyn überlebt. An der Weilheimer Realschule sprach die 94-Jährige über Judenverfolgung, Naziterror – und wie sie sich selbst durchgekämpft hat. Von Bianca Lütz-Holoch

Ruth Rosenstocks Kampf ums Überleben beginnt 1935 in einem Klassenzimmer der Volksschule im polnischen Mikuliczyn. Dort wird sie – eine „Vaterjüdin“ aus dem deutschen Königsberg, die die Landessprache nicht spricht – von den Mitschülern ausgelacht und von der Lehrerin alleingelassen. Aber sie gibt nicht auf. „In diesem ersten Jahr in Polen habe ich gelernt zu kämpfen und mich durchzusetzen“, erzählt Ruth Michel vor den Neunt- und Zehntklässlern der Realschule Weilheim. „Das hat mir später geholfen zu überleben.“ Später – damit meint sie den Holocaust in Mikuliczyn, bei dem über 200 jüdische Bewohnerinnen und Bewohner von den Nazis ermordet werden. Unter ihnen: Aron Rosenstock, Ruth Michels Vater.

 

Sie müssen dafür sorgen, dass so etwas nie wieder geschieht.
Ruth Michel
Die Shoa-Überlebende appelliert an die Weilheimer Schüler.
 

Als die heute 94-Jährige in der Mensa des Weilheimer Bildungszentrums Wühle ihre Geschichte erzählt, ist es mucksmäuschenstill. Ihr Alter merkt man der zierlichen Frau, die in Leinfelden-Echterdingen wohnt, nicht an. Regelmäßig hält sie als eine der letzten Zeitzeuginnen Vorträge an Schulen. „Ich will den Ermordeten eine Stimme geben“, sagt Ruth Michel. Und sie möchte verhindern, dass der nationalsozialistische Terror in Vergessenheit gerät. „Ich tue das auch, um zu zeigen, wohin Antisemitismus, Hass und Fremdenfeindlichkeit führen können“, betont sie. Ihr Appell an die Schüler in Weilheim und überall sonst: „Sie müssen aufpassen und dafür sorgen, dass so etwas nie wieder geschieht.“

Es ist Mai 1935, als Ruth Michel mit ihrer Familie – einem jüdischen Vater, einer christlichen Mutter und einer jüngeren Schwester – nach Mikuliczyn kommt, einem Lungenkurort, der zwischen Wald und Bergen am Fluss Pruth gelegen ist. Dort lebt Aron Rosenstocks Mutter. In ihrem Haus in einer Straße mit vielen jüdischen Bewohnern kommt die vierköpfige Familie unter. Königsberg hatten die Rosenstocks gleich nach Hitlers Machtergreifung verlassen. Für Juden war es dort zu gefährlich geworden.

Jahre voller Verfolgung und Angst

Es stellt sich heraus: Das schwierige erste Schuljahr ist für Ruth Michel nur der Auftakt zu vielen Jahren voller Angst und Hass, Verfolgung und Entbehrung. „Im September 1939 überfiel Hitler Polen. Der Krieg begann“, erinnert sie sich zurück. Erst marschiert die Rote Armee in Mikuliczyn ein, 1941 die Wehrmacht. „Als die Deutschen zu uns kamen, begann die Katastrophe für die Juden in Mikuliczyn“, so Ruth Michel.

Im Dienste der Gestapo schikanieren junge ukrainische Männer die Bevölkerung. Nachts werfen sie mit Steinen die Fenster von jüdischen Häusern ein, ihre Bewohner müssen jetzt weiße Armbänder tragen. In den Geschäften im Ort einkaufen gehen dürfen Juden nicht mehr. 

Von heute auf morgen geht Ruth Michels Kindheit zu Ende. Ihr Vater flieht zu Freunden in ein Dorf 15 Kilometer entfernt und überträgt der 13-Jährigen Ruth die Verantwortung für die Familie. „Er war überzeugt, dass uns Kindern nichts passieren würde, weil wir eine christliche Mutter haben“, sagt sie.

Den Weilheimer Schülern erzählt die Shoa-Überlebende, wie sie damals als einziges Kind mit lauter Männern zu einer langen, beschwerlichen Wanderung in die Berge aufbrach, um dort in einem Dorf Kochtöpfe und Bettlaken gegen Brot, Butter und Honig zu tauschen. Sie berichtet, wie sie zu Fuß ins 15 Kilometer weite Versteck des Vaters lief, um ihm Essen und Wäsche zu bringen. Und wie stolz ihre Familie auf sie war. „Ich war damals ständig so etwas wie der Held des Tages.“

Lebensrettende Überschwemmung 

Dann ereignet sich ein Unglück, von dem Ruth Michel heute glaubt, dass es ihr das Leben gerettet hat: Der Pruth, der durch Mikuliczyn fließt, tritt über die Ufer und reißt das halbe Haus der Rosenstocks mit sich. Deshalb schlüpft die Familie  jetzt wieder vereint mit dem Vater – in einem versteckt liegenden Gesindehäuschen unter. Der Hunger begleitet die Familie ständig. Oft kommen nur Kartoffelschalen auf den Tisch. Ruth Michel ist von Furunkeln übersät, ihre Schwester erkrankt an Tuberkulose. Als der Vater hört, dass im örtlichen Sägewerk noch Juden arbeiten, will er sich dort etwas dazuverdienen. Das wird ihm zum Verhängnis.

Bei einer großen Razzia am 9. Dezember 1941 nehmen die Nazis alle jüdischen Arbeiter aus dem Sägewerk fest und bringen sie ins Gemeindegefängnis – so wie alle anderen Juden aus dem Ort, die sie finden können. „Sie hatten weder Wasser noch Brot, und es war so eng, dass nur die Alten sitzen konnten. Babys und Kleinkinder starben in den Armen der Eltern“, schildert Ruth Rosenstock die unmenschlichen Zustände. „Drei Tage lang dauerte das Martyrium, dann war das Massengrab ausgehoben.“

Am 12. Dezember werden die Gefangenen in den Wald gefahren. Es liegt Schnee und es ist klirrend kalt. An einer acht mal acht Meter großen Grube müssen sich die Juden nackt ausziehen und sich an deren Rand knien. „Sie wurden von den Deutschen bestialisch durch Genickschuss ermordet“, sagt Ruth Michel. „Kinder, Mütter, Väter, Großeltern – alle. Und die Welt hat zugesehen.“ 

Und Ruth Michel, ihre Schwester und Mutter? Am Tag der Razzia hört die 13-Jährige, dass die ersten jüdischen Familien gefangen genommen wurden. Sie geht – getarnt als russisches Mädchen – noch zum Sägewerk, um ihren Vater zu finden. Als sie von der Gestapo hört, was geplant ist, flüchtet sie mit Mutter und Schwester in den Wald. Immer wieder suchen sie in den kommenden Tagen nach dem Vater, kehren auch zurück ins Häuschen. Doch er bleibt verschwunden. 

Barfuß und nackt im Schnee erschossen

„All die Menschen mussten sterben, weil sie irgendwann in eine jüdische Familie hineingeboren wurden“, verdeutlicht Ruth Michel und fordert die Weilheimer Realschüler auf: „Stellen Sie sich vor, wie das sein muss: Sie knien barfuß nackt im Schnee, müssen zusehen, wie Mutter oder Vater, Tochter oder Sohn erschossen werden, und Sie wissen: Gleich bin ich auch dran.“

​Das Unvorstellbare in Worte zu fassen und greifbar zu machen – das gelingt Ruth Michel an diesem Vormittag in der Weilheimer Realschule. Auf welche Kräfte sie zurückgreifen konnte, um all das zu überstehen, möchte eine Zuhörerin bei der Fragerunde wissen. „Geholfen hat mir immer der Glaube an mich selbst“, antwortet Ruth Michel. „Ich war aber auch risikobereit, wenn es nötig war.“ Und noch etwas Drittes braucht es aus ihrer Sicht: Glück. „Ich hatte alles drei.“

 

Das Massengrab existiert noch heute

Ruth Michel, geborene Rosenstock, wurde am 26. November 1928 in Königsberg geboren. Ihr Vater gehörte dem jüdischen Glauben an, ihre Mutter war Christin. 1933 verließ die Familie Königsberg, zog zunächst nach Danzig und dann nach Mikuliczyn. Dort besuchte Ruth Michel vier Jahre lang die polnische Volksschule und zwei Jahre lang das russische Gymnasium bis zu Hitlers Einmarsch in Russland 1941.

1942 gelang es Ruth Michel, gemeinsam mit ihrer Mutter und ihrer Schwester zur Großmutter nach Königsberg zu fliehen. Dort überlebte sie, getarnt als polnische Hilfsarbeiterin, die Bombardierung durch die Russen, Artillerie-Beschuss, Straßenkämpfe und die Typhus-Epidemie. Sie arbeitete als Dolmetscherin bei einer russischen Kommandantur und machte eine Ausbildung zur Zahntechnikerin. 1956 heiratete Ruth Michel. Mit ihrem Man bekam sie zwei Kinder. Er starb 1994. 2009 veröffentliche Ruth Michel unter ihrem Mädchennamen Ruth Rosenstock ihre Biografie mit dem Titel: „Die Flucht nach vorne“.

Mikuliczyn liegt in der heutigen Ukraine in den Waldkarpaten nahe der rumänischen Grenze. Als Ruth Michel dorthin zog, war Mikuliczyn ein Lungenkurort mit einem großen städtischen Sanatorium und einigen kleineren Sanatorien, die nur im Sommer geöffnet waren. Außerdem gab es zwei Schulen, zwei Klöster, zwei Bahnhöfe, zwei Kirchen und zwei Synagogen – eine davon im Garten von Ruth Michels Großmutter, einer frommen, orthodoxen Jüdin. Neben den jüdischen Bewohnern lebten in Mikuliczyn polnische Katholiken und griechisch-orthodoxe Ukrainer, von denen einige später zu „Terrorhelfern“ der Gestapo wurden. 

Das Massengrab in Mikuliczyn, in dem wohl auch ihr Vater liegt, hat Ruth Michel im August 2010 besucht. 205 Juden sollen dort begraben sein. Die Fläche ließ die Holocaust-Überlebende herrichten und neu umzäunen. Außerdem ließ sie eine Gedenktafel anbringen.