Über Karin Tomaszewskis Großonkel Rudolf wurde in der Familie nicht gesprochen. Kein Foto an der Wand, keines in den Alben. Und doch stand er manchmal mitten im Raum, „breit und schwer wie Blei“: So beschreibt die 66-Jährige eine Situation in ihrer Kindheit, in der noch nicht einmal der Name des Onkels fiel, sondern nur das Wort „Lungenentzündung“ – die angebliche Todesursache des Zwölfjährigen. Es dauerte noch rund 50 Jahre, bis sie zum ersten Mal ahnte, was es mit dem Familiengeheimnis um den Bruder ihrer Oma auf sich hatte. Als sie im Religionsunterricht mit ihren Zehntklässlern über die Tötung von Menschen mit Behinderung im Dritten Reich sprach, kam ihr plötzlich der Gedanke: Das könnte etwas mit Großonkel Rudolf zu tun haben.
Die erste Bestätigung für diesen Verdacht bekam die Gründerin des Wernauer Literaturkreises von ihrem Bruder, der zumindest ein bisschen mehr wusste. Er, der Jüngere, hatte Oma und Tante mit Nachdruck „gelöchert“ und sich auch von dem Satz „Ach, des isch älles scho so lang her…“ nicht abhalten lassen. Der zweite Beleg fand sich in der heutigen Gedenkstätte Grafeneck, wo ein Buch mit den Namen von mehr als 10 000 dort Ermordeten öffentlich ausliegt. In diesem ist er verzeichnet: Rudolf Markus Schneiderhahn, geboren 1928, ermordet 1940. Für Karin Tomaszewski begann damit eine lange Recherche nach dem Schicksal ihres Großonkels. Sie las, fragte in Archiven an, besuchte mit ihrem Mann Peter mehrfach die Gedenkstätte Grafeneck und die Stiftung Liebenau, ebenfalls eine Station im Leben des Großonkels. Zwischendrin ließ sie die Sache jahrelang ruhen, weil sie feststellte, „dass ich Zeit brauchte, um das alles zu verarbeiten.“ Aber am ersten Tag ihrer Pension machte sie sich dran, es aufzuschreiben.
Töchter sollten geschützt werden
Rudolf Markus Schneiderhahn wurde in einem kleinen Dorf am Rand des Schwarzwaldes geboren. Seine Mutter war schwer krank und starb wenige Monate später. Als Zweijähriger hatte der Bub einen Unfall in der Werkstatt des Vaters. Er schien zunächst glimpflich davongekommen zu sein, doch in der Folge verlor er die Sprachfähigkeit. Er konnte sich nur eingeschränkt durch Gesten ausdrücken, ging nie zur Schule und war wohl manchmal aggressiv gegen andere Kinder. Auch hieß es, er würde zündeln. Der Vater selbst war krebskrank und traf Vorsorge, dass der Sohn nach seinem Tod begutachtet und in die Heilanstalt Liebenau eingewiesen wurde. „Damit wollte er sicherlich seine drei Töchter schützen“, sagt Karin Tomszewski: Rudolfs ältere Schwestern mussten aufs Feld und in die Fabrik und hätten den Bruder nicht ständig beaufsichtigen können.
So wurde Rudolf 1938 in Liebenau aufgenommen und 1940 mit Zwischenstation Schussenried nach Grafeneck transportiert. Sein Name taucht auf den Transportlisten auf, und auch sonst hat Karin Tomaszewski im Staats- und im Bundesarchiv, in den Unterlagen von Liebenau und Grafeneck, einiges gefunden: Aufnahmepapiere, Krankenakten, die Diagnose „Idiotie“, die aus heutiger Sicht erniedrigend klingt. Nur Zeitzeugen gab es zum Zeitpunkt ihrer Recherche keine mehr. Dabei war sie als Kind von ihnen umgeben gewesen, im gleichen Haus, teilweise mit den gleichen Nachbarn aufgewachsen wie der Großonkel. „Ich hätte nie gedacht, dass seine Lebensgeschichte so viel mit mir selbst zu tun hat“, sagt sie. Viele mussten ihn noch gekannt haben, aber bei allem, was ihr als Dorfkind meist ungebeten über ihre Familie zugetragen wurde: niemand erwähnte Rudolf.
Schuldgefühle oder Scham?
Warum das Schweigen, auch in der Familie? Hatten die Schwestern Schuldgefühle? Oder war es Scham über die Behinderung, die als Makel für die Familie gesehen wurde? Das kann niemand mehr beantworten. Karin Tomaszewski hat es sehr beschäftigt, umso mehr, als die Unterlagen darauf hindeuten, dass der Junge in Liebenau weder Besuch noch Post bekam. Andere Familien hätten teilweise ihre Angehörigen nach Hause geholt, als Gerüchte über gehäufte Sterbefälle die Runde machten, sagt sie. Bis September 1940 sei das möglich gewesen.
In der Verwandtschaft stießen ihre Recherchen auf ein geteiltes Echo: mal große Dankbarkeit, „dass das jemand in die Hand genommen hat“, mal Abwehr. Unterstützt wurde sie vom Team der Gedenkstätte Grafeneck, vor allem von ihrem Leiter Thomas Stöckle, der sie auch ermutigte, ihre Ergebnisse in einem Buch zu veröffentlichen. Das hatte sie eigentlich gar nicht vor. „‘Gnadentod‘ für einen Zwölfjährigen“ ist im September 2022 erschienen und sehr lesenswert, nicht nur wegen des klaren Stils, sondern auch, weil die Autorin neben der Geschichte des Großonkels auch ihre eigenen Gedanken während der Recherchen beschrieben hat. Mittlerweile hat sie viele positive Reaktionen auf das Buch bekommen, oft von Menschen, die ein ähnliches „Geheimnis“ in der Familie haben. Manche wollen sich jetzt auf denselben Weg machen und den verstorbenen Angehörigen ihren Platz in der Familie zurückgeben – das freut Karin Tomaszewski besonders.
Historische Hintergründe
Der 27. Januar ist der Internationale Tag des Gedenkens an die Opfer des Holocaust. Er wurde im Jahr 2005 von den Vereinten Nationen eingeführt, anlässlich des 60. Jahrestags der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz-Birkenau.
In Grafeneck wurden von Januar bis Dezember 1940 10 654 Menschen mit geistiger Behinderung oder psychischer Erkrankung ermordet. Seit 1989/90 ist der Ort eine frei zugängliche Gedenkstätte, als offene Kapelle konzipiert. Im Gedenk- und Namensbuch können die Namen der Opfer nachgelesen werden, 2005 wurde zusätzlich ein Dokumentationszentrum eröffnet.
„‚Gnadentod‘ für einen Zwölfjährigen“ ist im Buchhandel erhältlich und kann über die ISBN 978-3-
9815231-6-4 bestellt werden. aia