Bad Urach/Kirchheim. Die über Jahrzehnte viel zitierte „Laichinger Hungerchronik“ und die spektakuläre Aufdeckung dieser antisemitischen Fälschung beleuchtete Günter Randecker vom Dr. Wilhelm-und-Louise-Zimmermann-Geschichtsverein in seinem Vortrag auf Einladung der vhs Bad Urach-Münsingen in der Schlossmühle in Urach.
Zu Beginn präsentierte der Referent die Schilderung der Notzeit vor 200 Jahren anhand eines zeitgenössischen Blattes, das einer Uracher Bibel beigelegt war: Demnach sind am 11. August 1817 die ersten Erntewagen eingebracht worden – vom Faßwirt Simmendinger und von Samuel Gseller. Pfarrer Köstlin predigte zu Psalm 106, und die versammelte Gemeinde sang: „Nun danket alle Gott“.
Der Bad Uracher Musikverein hatte sich zu einer Stippvisite eingefunden und umrahmte Randeckers Vortrag mit zwei Stücken – zugleich auch eine musikalische Ehrung anlässlich des Gedenktages für die Opfer der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft.
Im Jahr 1987 sind dem Referenten, als er zum ersten Mal die angeblichen „Aufzeichnungen eines Älblers über die Teuerung und Hungersnot 1816/17“ las, Zweifel an der Echtheit dieser „Quelle“ gekommen, wonach die Juden von Buttenhausen schuld an jenem Elend gewesen seien. In den staubigen Archivalien des Münsinger Rathauskellers verglich Randecker die Angaben jener „Chronik“ eines Laichinger Handwerkers mit den Abrechnungsbüchern von Buttenhausen. Ein jüdischer Getreidehändler mit dem Namen „Abraham“ war dort nicht verzeichnet. Weitere detaillierte Untersuchungen und Nachforschungen ergaben dann: Diese „Laichinger Hungerchronik“ ist gefälscht worden, und zwar von dem Volksschullehrer Christian August Schnerring (Jahrgang 1870) um das Jahr 1916 – als die erste Druckfassung erschien –, in Kirchheim unter Teck tätig. Und die Handschrift dazu lieferte der Fälscher erst im „Dritten Reich“ nach. Die „Fälscherwerkstatt“ befand sich in der Lehrerswohnung im zweiten Stock des Gasthauses „Löwen“ in der Karlstraße 3 (der heutigen Max-Eyth-Straße). Auf den Umschlag der 40-seitigen Fälschung notierte Schnerring fälschlicherweise: „Ich erhielt diese Handschrift 1898 von meinem Uracher Onkel“, der sie angeblich ursprünglich von seinem Laichinger Lehrmeister Peter Bürkle ausgehändigt bekommen hätte. Randecker publizierte seine Entdeckung unter dem Titel „Die Laichinger Hungerchronik – ein Lügengewebe“. Dieser Aufsatz erschien auch in dem Sammelband „Gefälscht!“ des Rowohlt Verlags. 70 Jahre lang war dieses in Kirchheim entstandene antisemitische Machwerk immer wieder zitiert worden, zuletzt auf der Stuttgarter Napoleon-Ausstellung.
Das Ganze sei ein Modellfall, meinte der Referent, weil in der Fälschung ein viele Jahrhunderte Württemberg prägendes Vorurteil gegen die Juden zum Ausdruck komme: von den Judenpogromen im Spätmittelalter bis hin zu Graf Eberhards Testament und Herzog Christophs antijüdischen Aktionen. Geschürt worden sei dieser Judenhass mit allen Mitteln von den „geistigen“ Wegbereitern der verbrecherischen Nazis, denen das Fälscherhandwerk nicht rechtzeitig gelegt worden sei. Diese Fälschung lässt auch Jahre nach ihrer Aufdeckung die Geister nicht los: Noch 1995 wurde sie vom Deutschen Brotmuseum in Ulm verbreitet. Und im „Schwabenspiegel“ von 2006 ist zu lesen: „Antisemitische Beweggründe“ hätten sich „nicht belegen“ lassen. „Waren denn die Ermordeten schuld“, hieß schon 1945 eine Aufklärungsschrift gegen solche Ignoranz. Der 27. Januar, der Jahrestag der Befreiung des KZs Auschwitz (1945), ein offizieller Gedenktag seit 1996, soll durch die örtliche Beflaggung mit Trauerflor auch die Worte des Bundespräsidenten Joachim Gauck unterstreichen: „Es gibt keine deutsche Identität ohne Auschwitz.“ In seinem Schlusswort wies der Referent darauf hin, was zu tun ist gegen das Prinzip, das Auschwitz hervorgebracht hat, und zitierte den Soziologen Theodor W. Adorno: „Autonomie, Kraft zur Reflexion, zur Selbstbestimmung, zum Nicht-Mitmachen.“gr