Die sehbehinderte Linn besucht eine zweite Klasse der Grundschule in Oberlenningen
„Ich kann sogar schon ohne Kamera schreiben“

Lenningen. Auf einem schwarzen Karton liegen sieben gelbe Zehnerstangen und zwei einzelne Steckwürfel aufgereiht in der Mitte auf dem Boden.

Linn steht von ihrem Hocker auf, kniet dicht davor und zählt mit den Fingern nach, ob die ausgelegten Plastikstäbe und -würfel tatsächlich 72 ergeben. „Alle einverstanden?“, fragt die Grundschullehrerin Heidi Segeritz in die Runde.

Die hochgradig sehbehinderte Linn Kazmaier besucht eine zweite Klasse der Oberlenninger Grundschule. Sie ist eines von drei inklusiv beschulten Kindern in der Grundschule am Heerweg. Mit Brille kann das achtjährige Mädchen Objekte, die ein normalsichtiger Mensch auf einen Meter Entfernung erkennen kann, erst im Abstand von zwei bis vier Zentimetern ausmachen. Einerseits benötigt Linn viel Licht, andererseits ist sie aber auch stark blendempfindlich, so dass sie grelles Sonnenlicht beispielsweise als störend empfindet. Spiegelnde Oberflächen erschweren das Sehen zusätzlich.

Damit Linn unterschiedliche Gegenstände besser wahrnehmen kann, arbeitet die Lehrerin mit Kontrasten. „Bei der Vorbereitung überdenke ich immer, was ich für Linn berücksichtigen muss. Davon profitieren auch die anderen Kinder. Vieles wird dadurch ja anschaulicher“, so Heidi Segeritz. Das Anfertigen spezieller Arbeitsblätter erledigt dagegen Jana Weiland. Im Rahmen eines Freiwilligen Sozialen Jahres hat sie die Assistenz für das sehbehinderte Mädchen übernommen. Seiten aus Schulbüchern müssen größer und reduzierter umgestaltet werden. Statt Farben setzt Jana Weiland insbesondere schwarze Eddingstifte ein, damit sich das Dargestellte gut vom weißen Papier abhebt. Häufig muss sie auch spontan in der Lage sein, Unterrichtsinhalte für Linn zugänglich zu machen, so beispielsweise, wenn im Unterricht ein Film gezeigt wird. Dann erläutert Jana Weiland die für die Achtjährige nicht erkennbaren Handlungen.

Wie ihre Mitschüler findet sich Linn, vorausgesetzt sie sitzt nahe davor, bestens auf der 100er-Tafel zurecht. Den Schülern ist anzumerken, dass „sie schon fleißig darauf herumgewandert sind“, wie Heidi Segeritz bildhaft umschreibt. Genauso wie Fabio mühelos erkennt, dass man 20  dazuzählen muss, wenn man zwei Schritte nach unten geht, errechnet Linn mit Leichtigkeit das Ergebnis: „46“!

Während die anderen Kinder ihre Mathebücher mit zarten blauen Zehnerlinien aufschlagen, legt Jana Weiland der sehbehinderten Schülerin ein umgestaltetes Arbeitsblatt mit dicken schwarzen Strichen auf den Tisch. Flugs schiebt Linn das Papier unter die an ihrem Arbeitsplatz installierte Kamera, mit der sie sich auch Tafelaufschriebe auf den Bildschirm holt. Zügig löst sie Aufgabe für Aufgabe. Mit einer geschulten Hand-Auge-Koordination notiert sie anschließend Zahlen in großen Karos auf dem vor ihr liegenden Papier und verfolgt auf dem Bildschirm, was sie schreibt. „Früher hatte ich so Kästchen wie die anderen, da musste ich immer alles vergrößern. Jetzt kann ich sogar ohne Kamera schreiben“, erzählt sie stolz.

„Wir haben lange überlegt, ob sie überhaupt die Schreibschrift lernen soll, aber das wollte sie unbedingt, weil sie den Ehrgeiz hat, das zu können, was ihre Schulfreunde auch können“, sagt Wibke Zayer von der sonderpädagogischen Beratungsstelle der Nikolauspflege in Stuttgart, einer Stiftung für blinde und sehbehinderte Menschen. Jeden Montag besucht die Fachfrau Linn in der Schule, gibt Heidi Segeritz und Jana Weiland hilfreiche Tipps, berät nachmittags die Familie und arbeitet intensiv mit Linn.

Dass Linn größtmögliche Selbstständigkeit erlangt, ist eines der Ziele der Förderung. Dazu hat die Familie auch die Farbstifte des Mädchens individuell präpariert: Der rote Stift trägt ein Herz, der blaue einen Fisch, der pinkfarbene ein T-Shirt und der goldene eine Medaille. „Das ist typisch für die sportliche Linn“, sagt Wibke Zayer lachend. Die Mutter, die schon seit Jahren mit sehbehinderten Menschen Tandem fährt, und im Winter Skikurse für Menschen mit Behinderung anbietet, fördert das Kind entsprechend. Linn besucht das von der Mutter geleitete Leichtathletiktraining des TSV Oberlenningen, geht mit ihren Eltern klettern, fährt Alpinski und hat sich im vergangenen Winter mit großem Spaß im Biathlon versucht. Kein Wunder, dass sich Linn im Klassenzimmer und im ganzen Schulhaus auch ohne Langstock sehr gut orientieren kann. Den Weg zum Pult, wo sie im Englischunterricht als „Assistentin“ von Heidi Segeritz fungieren darf, findet das Mädchen denn auch mit schlafwandlerischer Sicherheit.