Esslingen. „Ich bedauere es sehr, dass man in der Politik immer erst ein schlimmes Ereignis braucht, um handeln zu dürfen. Wir reagieren immer erst, wenn etwas passiert ist“ - vehement plädiert Gregor Gysi (Die Linke) beim Talk im Econvent in Esslingen für eine vorbeugende, vorausschauende Politik. Der Bundestagsabgeordnete besticht im voll besetzten Saal mit tiefgründigen Gedanken, prägnanten Diagnosen zur aktuellen Politik, seiner Beurteilung der Wiedervereinigung und ihrer Folgen und mit jeder Menge humorvoller Schnurren.
Der promovierte Jurist redet fast zwei Stunden lang ohne Punkt und Komma. „Das muss ich Ihnen erzählen“ - mit diesen Worten leitet er Anekdote um Anekdote ein: Etwa die Geschichte vom Starkbieranstich auf dem Münchner Nockherberg, wo Gysi (Foto) erst nach drei Maß aufging, dass er der einzige Politiker war, der tatsächlich Bier getrunken hatte: „Die anderen hatten sich wer weiß was in ihre Krüge einfüllen lassen. Mensch, da war ich locker“, feixt Gysi.
Neben Histörchen kommt aber auch die präzise politische Analyse nicht zu kurz: Schnell streift der Linken-Politiker die Flüchtlingsthematik, flugs schwenkt er zu Weltpolitik und Weltwirtschaft und bedauert, dass Deutschland es versäumt habe, Stärke und Selbstbewusstsein zu zeigen und deshalb keine herausragende globale Rolle mehr spiele.
Gysi zählt Fehler auf, die bei der Einheit gemacht wurden und die sich nach 30 Jahren noch auf das Verhältnis von Ost- und Westdeutschen auswirken. „Einige Sachen im Osten waren gut, zum Beispiel die Gleichstellung der Geschlechter, die Berufsausbildung parallel zum Abitur oder die Polikliniken. Hätte man auch nur ein paar dieser bewährten Strukturen übernommen, hätte das in Deutschland die Lebensqualität erhöht, das Selbstbewusstsein der Ostdeutschen angehoben und den Westlern gezeigt, dass nicht alles schlecht war im Osten.“
Mit Schaudern erinnert er sich daran, wie er in Thüringen auf dem Weg in eine Veranstaltung vielfach bespuckt wurde, sich nicht beirren ließ und unnachgiebig weiterging. „Ich renne nicht weg, niemals.“ Er verrät, obwohl kein religiöser Mensch, dass ihm in solchen Momenten die Bergpredigt Kraft gibt: „Ich hasse nicht zurück.“ Gaby Weiß