Kirchheim. Spiegel kontrollieren, Blinker setzen, ein kurzer Schulterblick nach hinten – und erst danach wird abgebogen. Mühsam eingeprägt, in der Prüfung tadellos abgespult, wird diese Regel nach bestandener Tortur schnell aus dem Gedächtnis gelöscht. Und aus dem perfekt fahrenden Prüfling kann in kürzester Zeit ein kleiner Verkehrsrowdy werden. Aber – da ist man ja nicht alleine. Denn wer hat je Mama und Papa vor dem Abbiegen zuerst nach hinten gucken sehen? Und wer bitte blinkt schon beim Überholen eines am Rande stehenden Fahrzeugs? Können ja dann gar nicht so wichtig sein, diese Regeln, die der Fahrlehrer immer gepredigt hat.
Wenn der Fahranfänger seine neu gewonnene Freiheit also nutzt, indem er es mit den Verkehrsregeln nicht mehr ganz genau nimmt, kann das nicht nur an einem rebellischen Temperament liegen. Sondern auch an dem Wunsch, als normaler und ernst zu nehmender Verkehrsteilnehmer wahrgenommen zu werden. Denn sitzt man im Fahrschulauto, entgehen einem die bösen Blicke kaum, die das scheinbar unschuldige Dachschild mit dem Wort „Fahrschule“ auslöst. Langsames Fahren, Abwürgen, zögerliches Verhalten – jede Bewegung zieht unweigerlich genervte Blicke aus den umstehenden Fahrzeugen auf sich.
Das würde nach der bestandenen Prüfung gerade so weitergehen, wenn man weiterhin akribisch nach den Verkehrsregeln fahren würde. Denn wer sich auf der 30er-Straße wie gelernt an die Geschwindigkeitsbegrenzung hält, wird mit beinahe am Kofferraum klebenden Fahrzeugen belohnt. Der unsichere Fahranfänger wagt kaum einen Blick in den Rückspiegel, aus Angst, welche Schlange aus Fäuste schwingenden Fahrern sich schon hinter ihm gebildet hat.
Auch im verkehrsberuhigten Bereich ist es mit einem ungeduldigen Hintermann ein Willensakt, den Fuß vom Gas zu lassen und unbeeindruckt mit Schrittgeschwindigkeit durch die Straßen zu tuckern. Kommt dann ein Stoppschild, braust man am besten ohne anzuhalten weiter. Denn wer kommt schon auf die Idee, dass jemand tatsächlich am Stoppschild zwei Sekunden anhält? So gut wie niemand. Weshalb der Hintermann schnell mal im Kofferraum landet, wenn man tatsächlich unerwarteterweise stoppt.
Aber das muss man ja auch nicht mehr, wenn man stolzer Besitzer des Führerscheins ist. Dann lässt es sich ganz nach Lust und Laune fahren. Statt auf korrektes Verkehrsverhalten konzentriert man sich jetzt lieber auf Fahrschulautos, deren Insassen man nach allen Regeln der Kunst beschimpft. Als Führerscheinbesitzer darf man das.