Transsexualität
Im falschen Körper gefangen

Martin Steinert aus Hattenhofen hat sechs Operationen hinter sich, die aus ihm einen Mann ­machten. Jetzt bezeichnet er sich selbst als „glücklichsten Menschen der Welt“. 

Der 46-jährige Martin Steinert hat einen langen Leidensweg hinter sich. Heute ist er topfit und möchte beruflich voll durchstarten. Foto: Heike Siegemund

Er war jahrelang im falschen Körper gefangen, fand lange kein Gehör, hungerte sich bis auf 26 Kilogramm runter, stand kurz vor dem Tod. Doch trotz all der Jahre des Leidens und der verlorenen Jugend gelang Martin Steinert aus Hattenhofen letztlich die Kehrtwende. Heute geht es dem 46-Jährigen nach eigener Aussage so gut wie noch nie: Nach sechs Operationen wurde aus seinem ursprünglich weiblichen Körper ein männlicher. Steinert lebt glücklich in einer Beziehung und möchte beruflich voll durchstarten als persönlicher Trainer, Ernährungsberater und Group Fitness Trainer.

Es war ein langer Weg zu sich selbst, den der Hattenhofener gehen musste. Als Martina war er auf die Welt gekommen. Doch das Kind fühlte sich als Junge. Mit Puppen spielte sie zwar, aber eben immer als „Puppen-Papa“. Den Gedanken, dass sie lieber ein Junge wäre, behielt sie für sich, schämte sich dafür. Die innere Zerrissenheit kompensierte sie durch Sport: Schon immer hatte sie einen großen Bewegungsdrang. Leistung wurde, auch in der Schule, immens wichtig für sie. Als sie ihre erste Periode bekam, war das ein Schockerlebnis. Dass sich ihr Körper zur Frau entwickelte, wollte sie mit allen Mitteln verhindern – und so hungerte sie. Es war der erste Schritt in die Anorexie, also die Magersucht, die für lange Zeit ihr Leben bestimmen sollte.

 

Die Magersucht war ein Schrei meiner Seele.

Martin Steinert

 

„Die Magersucht war ein Schrei meiner Seele und Ausdruck meiner Identitätsproblematik“, sagt Steinert und blickt auf die „Therapie-Odyssee“ zurück, die anschließend begann. Ärzte und die besorgten Eltern wollten dem Kind helfen. Doch die Psychotherapien hatten keinen Erfolg, denn es standen nur das Essverhalten und die Magersucht im Mittelpunkt – nicht aber die Ursache, schildert der Hattenhofener. Damals in den 90er-Jahren im ländlichen Raum sei das Thema Transsexualität nicht angesprochen worden, obwohl sie verzweifelt versucht habe, über ihre tiefsten Probleme zu sprechen. „Ich wurde nicht angehört, sogar belächelt und als Neutrum bezeichnet.“

Funktioniert wie eine Maschine

Durch Fleiß und unbändigen Leistungswillen schloss sie die Mittlere Reife mit der Note 1,0 ab. Am Ernährungswissenschaftlichen Gymnasium in Göppingen absolvierte sie das Abitur mit 1,1. Sie funktionierte wie eine Maschine, auf Leistung programmiert, sagt Steinert. Nach dem Abi begann sie ein Studium der Diplom-Agrarbiologie an der Uni Hohenheim, das sie mit der Note 1,6 erfolgreich abschließen sollte.

Im Jahr 2000 kam es zu einem folgenschweren, erschütternden Ereignis: Martina wurde vergewaltigt. „Von manchen Jahren weiß ich absolut nichts mehr“, nennt Steinert die Folgen eines posttraumatischen Belastungssyndroms, das durch die Vergewaltigung ausgelöst wurde. Der Selbsthass und die Selbstzerstörungswut wurden noch größer. Die einzige Beruhigung bot ein Schmerz- und Betäubungsmittel, das der Frauenarzt in der Not verschrieben habe, weil sie starke Schmerzen hatte und er sie nicht untersuchen konnte.

Sport ist für Martin Steinert immens wichtig. Damals noch als Martina nahm sie an unterschiedlichen Wettkämpfen teil, hier am Stuttgart-Halbmarathon im Jahr 2001. Foto: pr

Die Magersucht steigerte sich mehr und mehr. Hinzu kamen immer stärkere Magen- und Darmbeschwerden. Nach nur einem Bissen wurde ihr übel, Durchfälle kamen hinzu. Der Körper wehrte sich. Intensiv befasste sich Martina in einer Art Eigenstudium mit Ernährungsmedizin, besuchte außerdem an der Uni Vorlesungen der Ernährungswissenschaften. Die Ärzte haben sie zu dieser Zeit im Grunde bereits aufgegeben, weil sie als austherapiert galt, berichtet Steinert.

Doch es sollte die glückliche Wendung kommen: Steinert fand eine Therapeutin, die er als „Engel“ bezeichnet. Diese Therapie war alles entscheidend, weil diese Frau die Grundproblematik erkannte – auch wenn der Weg lange und hart war. „Sie war meine Lebensretterin. Ihr konnte ich mich öffnen“, betont Steinert. „Gehe deinen Weg und oute dich. Dann wirst du dein Leben leben“, sagte die Therapeutin. „Und ich spürte, dass ich diesen Auftrag verfolgen muss“, ergänzt Steinert.

Inzwischen kerngesund

Diese Erkenntnis führte Martina schließlich zu einem Facharzt, dessen psychotherapeutische Begleitung die Voraussetzung für die Umsetzung von operativen Maßnahmen im Rahmen der Geschlechtsumwandlung war. Im Jahr 2020 begann eine Hormonbehandlung mit Testosteron, das als Gel auf die Haut aufgetragen wird. Es folgten sechs OPs: fünf in München, eine in Ulm. „Eine All-in-one-OP ist grundsätzlich möglich, aber das war für mich indiskutabel, weil ich das körperlich nicht geschafft hätte.“

Nach den Operationen, die zwischen 2021 und 2023 stattfanden, wurde Steinert wie durch ein Wunder quasi „von heute auf morgen“ von der Magersucht befreit. „Ich bin kerngesund und der glücklichste Mensch der Welt“, sagt er strahlend. Wenn er Fotos von früher sieht, kann er es selbst kaum fassen: „Es ist, als ob es sich um eine andere Person handelt.“ Über seinen Leidensweg bis zur Wende hat Steinert das Buch „Der lange Weg zu mir selbst“ geschrieben. Damit will er Menschen, die sich in ähnlichen Situationen befinden, Mut machen: „Glaube an dich, gib niemals auf“, betont er. „Es lohnt sich, immer wieder aufzustehen.“