Es ist nicht üblich, dass Sie eine Kommune kurz vor einem Bürgerentscheid besuchen. Warum setzen Sie sich in Weilheim so ein?
Winfried Kretschmann: Die Weilheimer treffen eine Entscheidung, die für sie, aber auch für das Land von überragender Bedeutung ist. Wir stehen mitten im Klimawandel, und der erfordert dringend den Umbau unserer Wirtschaft: Sie muss klimaneutral werden, und gleichzeitig wollen wir Arbeitsplätze mit Zukunft im Land halten. Jetzt kommt noch der Krieg gegen die Ukraine dazu, der zeigt, wie teuer unsere Abhängigkeit von Erdöl und Erdgas ist. Wir stehen zeitlich unter starkem Druck und müssen schnellstmöglich umsteuern. Die hier geplante Fabrik ist ein wichtiger Baustein auf unserem Weg zu einer klimaneutralen Wirtschaft, die unseren Wohlstand auf eine neue Grundlage stellt.
Was würde eine Ablehnung des Gewerbegebiets – und damit auch das Aus für Cellcentric – für die Region und das Land bedeuten?
Kretschmann: Ich weiß nicht, was Cellcentric in dem Fall macht. Ich denke, dass sich das Unternehmen einen anderen Standort suchen wird. Ob der dann noch in Baden-Württemberg liegt, ist sehr ungewiss. Deshalb werbe ich dafür, eine Entscheidung für die Fabrik zu treffen, auch wenn das dem einen oder anderen schwerfallen mag. Es ist klar: Jedes Gewerbegebiet braucht Flächen. Auch der Klimaschutz braucht Flächen. Und damit muss man sorgsam umgehen. Natürlich müssen wir bedrohte Arten schützen. Und natürlich müssen wir den Flächenverbrauch begrenzen. Aber wir müssen immer auch das Ganze sehen und dürfen nicht zu kleinteilig denken. Das heißt: Wir müssen diese vermeintlichen Zielkonflikte so auflösen, dass wir im Kampf gegen den Klimawandel vorankommen. Denn wenn wir die globale Erhitzung nicht stoppen, wird sich die Natur so dramatisch verändern, dass wir sie nicht mehr wiedererkennen. Da geht es dann nicht um eine Wiese, sondern um unsere ganze Lebensgrundlage. Und genau darum geht es auch bei dieser Entscheidung. Um den Aufbau einer neuen, klimaneutralen Welt. Um gute, zukunftsfähige Arbeitsplätze. Und natürlich um ein prosperierendes Weilheim.
Haben Sie Verständnis dafür, dass sich eine Bürgerinitiative gegen das Gewerbegebiet einsetzt?
Ja, klar habe ich dafür Verständnis. Das ist ja ein Zeichen, dass es den Bürgerinnen und Bürgern nicht egal ist, was in ihrer Umgebung passiert. Aber sie tragen hier auch Verantwortung über Weilheim hinaus. Es geht um die Ansiedlung einer sehr wichtigen Fabrik, die eine große Bedeutung für die Zukunft für Weilheim hat, die aber gleichzeitig eine große Bedeutung für die Zukunft unseres Landes hat. Mit einer Brennstoffzellenfabrik kann Weilheim einen Beitrag zur Energiewende leisten und sich gleichzeitig für die Zukunft aufstellen, denn es kommen ja auch Wertschöpfung und Arbeitsplätze in die Region. Das ist ein Gewinn für alle.
Erst Dettingen, jetzt Weilheim – immer wieder entscheiden wenige Tausend Bürger über landesweit relevante Projekte. Soll so „Politik des Gehörtwerdens“ aussehen?
Das sind Dinge, die wir immer wieder neu besprechen müssen: Wer entscheidet über was? Hier entscheiden jetzt die Bürgerinnen und Bürger darüber. Ich bin aber optimistisch, was den Ausgang betrifft.
Muss sich im Hinblick auf Bürgerbeteiligung in Zukunft etwas ändern?
Hier in Weilheim ist das vorbildlich gelaufen. Wir haben in den vergangenen Jahren im Land neue Formen der Bürgerbeteiligung entwickelt, die hier angewendet werden, zum Beispiel die Idee des Zufallsbürgers. Wir wollen in Konflikten nicht immer nur diejenigen beteiligen, die dafür oder dagegen sind, sondern auch zufällig ausgewählte Bürger, die nicht von vorne herein festgelegt sind. Damit haben wir sehr gute Erfahrungen gemacht, weil so auch die stillen Bürger und jene, die sich oft übersehen fühlen, zu Wort kommen. Außerdem versachlicht es in der Regel die Diskussion enorm. Und genau darum geht es. Der Gemeinderat hat entschieden, dass es im Anschluss an die Beteiligung noch einen Bürgerentscheid geben soll. So können die Weilheimer ihre Wahl jetzt auf der Grundlage einer sehr guten Information treffen.
Entscheiden sich die Bürger pro Gewerbegebiet – können die Stadt und Cellcentric dann mit finanzieller Unterstützung vom Land rechnen?
Wir entscheiden immer anhand der Sachlage im Einzelfall, ob es eine Förderung durch das Land geben kann. Zum Beispiel kümmern wir uns jetzt schon um ein Verkehrsprojekt in Weilheim. Der Kern einer Demokratie ist nicht, dass man etwas macht, weil man dafür was bekommt, sondern weil man die Sache richtig findet.
Glauben Sie persönlich daran, dass die Brennstoffzellen-Technologie zum Erfolg führt?
Wasserstoff wird der Energieträger der Zukunft sein, weil wir Öl und Gas in der Industrie und beim Heizen ersetzen müssen. Viele Industrieprozesse lassen sich nur mit einer Wasserstoffstrategie umstellen. Deswegen bin ich überzeugt, dass in den kommenden Jahren die Wasserstofftechnologie immer wichtiger wird. Der Krieg in der Ukraine wird das noch mal beschleunigen. Wir als Land haben das frühzeitig erkannt und eine der ersten Wasserstoff-Roadmaps erstellt, um das einzuleiten. Die Brennstoffzelle wird sicher eine tragende Rolle spielen. Sie ist eine Zukunftstechnologie, das ist sicher. Wo genau sie eingesetzt wird, ist aber eine strategische unternehmerische Entscheidung. Man kann allerdings davon ausgehen, dass sich Konzerne wie Cellcentric gut überlegt haben, auf die Technologie zu setzen.
Damit die Energiewende wirklich gelingt, braucht es grüne Energie und grünen Wasserstoff. Wie kann Baden-Württemberg dazu beitragen?
Erst mal geht es darum, dass wir im Land alle Weichen stellen, damit wir beim Ausbau der Erneuerbaren vorankommen. Das machen wir grade sehr intensiv, zum Beispiel mit schnelleren Verfahren und einer Offensive für mehr Windkraft und Photovoltaik, denn das Ziel muss sein, dass wir selbst grünen Wasserstoff produzieren können. Bis auf Weiteres werden wir aber auch Energie importieren müssen. Die Energieerzeugung hat sich immer mehr in den Norden, ans Meer, verlagert. Deswegen sollen große Gleichstromtrassen in den Norden gebaut werden. Aber leider ist noch kein Kilometer fertig – das geht alles viel zu langsam. Und wir werden auch eine Wasserstoffpipeline brauchen aus den sonnenreichen Ländern. Kurzum, Baden-Württemberg braucht aber als bedeutender Industriestandort grüne Energie. Deswegen ist es wichtig, Fabriken hier im Land zu bauen, dann kommen auch die Pipelines hierher.
Wie wollen Sie sicherstellen, dass es nachher nicht zu jedem Windrad einen Bürgerentscheid gibt?
Die Politik kann man nur mit der Zustimmung der Bürgerinnen und Bürger machen. Deshalb müssen wir vermeiden, dass jeder sagt: „Ja, die Energiewende ist ganz prima – aber bitte nicht bei mir.“ Es braucht auch die Orientierung am Gemeinwohl. Im Odenwald gab es gerade einen Bürgerentscheid, es gab eine große Mehrheit für einen Windpark. Und in der Energiewende steckt ja die Chance, dass Bürger einen unmittelbaren Nutzen haben. Stichwort: Bürger-Windräder. Im Moment merkt ja jeder noch einmal ganz dramatisch, was es heißt, von fossilen Energieträgern abhängig zu sein – und dann noch von einem Regime wie dem Putins. Dazu kommt die Erderwärmung. Politik heißt immer, in Alternativen zu denken. Und wenn man diese vor sich sieht, dann wird man merken: Windräder und Photovoltaikanlagen sind in der Landschaft gut erträglich. Wenn wir den Klimawandel nicht begrenzen, werden die Obstbäume der Limburg verdorren. Diese Vorstellung ist nicht erträglich.