Kreis. Als der Junge auch nach drei Wochen nicht zur Schule kommt, alarmiert die Lehrerin des 13-Jährigen dessen Eltern. Solche Fälle von Kindern, die zeitweise nicht zur Schule gehen, haben im vergangenen Jahr in den psychologischen Beratungsstellen des Kreisdiakonieverbands in Esslingen und Filderstadt zugenommen – sowohl in wohlhabenden als auch in armutsgefährdeten Familien.
Dahinter stecke mehr als harmloses Schulschwänzen, sagt Christiana Berner bei der Vorstellung ihres Jahresberichts. Berner leitet die Filder-Beratung: „Wir beobachten häufiger Ängste, soziale Überforderung nach den Corona-Jahren, depressive Verstimmungen und Selbstverletzungen.“ Insbesondere Mädchen kämen zur Beratung, weil sie sich ritzen. „Dass sich auch Mädchen im Alter von zwölf Jahren selbst verletzen, ist erschreckend.“
Die Probleme vieler Ratsuchenden seien komplexer, akuter, stärker geworden. Das zeige sich auch daran, dass die Zahl der Sitzungen pro Fall zugenommen hat, sagt Uwe Stickel, der die psychologische Beratung in Esslingen leitet. In Esslingen hätten mehr als ein Fünftel der Beratungen zwischen sechs und zehn Sitzungen gedauert – länger als im Vorjahr. „Viele bräuchten eine Therapie“, sagt Berner. Therapiearbeit zu leisten, sei nicht Aufgabe der psychologischen Beratungsstellen. Weil es Wochen oder Monate bis zum Therapieplatz dauern kann, müssten sie Menschen aber stabilisieren – und seien dabei selbst ausgelastet.
1919 Menschen haben das diakonische Beratungszentrum Esslingen und die psychologische Beratungsstelle Filder mit zusammen zehn Mitarbeitenden im vergangenen Jahr beraten. Hinzu kommen 950 Menschen, die sie über Vorträge und Workshops erreichten. „Wir bräuchten dringend mehr Stellen“, sagt Eberhard Haußmann, Geschäftsführer des Kreisdiakonieverbands. Für Christiana Berner alarmierend: Schon jetzt hätten sich 17 pädagogische Fachkräfte – also Erzieher, Schulsozialarbeiterinnen und Lehrer – in diesem Jahr an die Beratungsstellen gewandt. 2022 zählten die Stellen noch 34 solcher Beratungen für Pädagogen, im vergangenen Jahr waren es schon 41. Gewachsen sei auch der Beratungsbedarf von über 80-Jährigen im Kreis, die Kriege in der Ukraine und Gaza an die eigene Vergangenheit erinnere. „Krieg ist aktuell eines unserer Kernthemen, da kommen Erinnerungen hoch“, sagt Christiana Berner. Auch Jüngere und Geflüchtete belasteten Kriege und der Klimawandel auf besondere Weise. „Jede Generation hat ihre Themen. Aber der Stress, der heute auf junge Menschen wirkt, ist vielschichtiger“, sagt Uwe Stickel. Wegberaten ließen sich Kriege und Klimawandel zwar nicht, so Eberhard Haußmann: „Aber wir können uns Zeit nehmen, zuhören und den Blick darauf richten, was es Gutes im Umfeld und in der Welt gibt.“ So lasse sich Hoffnung oft schon in kleinen Verbesserungen finden. Jana Gäng
InfoDie psychologischen Stellen des Kreisdiakonieverbands in Esslingen und Filderstadt beraten kostenlos Familien (im Schnitt 64 Prozent der Fälle 2023) und junge Erwachsene (8 Prozent) – persönlich, am Telefon, per Video und anonym im Netz auf der Plattform Onbera. Neben dem Beratungsangebot, das sich aus dem gesetzlichen Auftrag ergibt, wird Lebens- (26 Prozent) und Paarberatung (3 Prozent) aus Kirchenmitteln finanziert.

